Jahrbuch 2007

Antaiji


Heiko (Antaiji, 38, Organist)


Was mich zur Zen-Praxis hingezogen hat, war, dass es bei Zen um das geht, was wirklich ist, um das was jetzt ist. Es geht nicht um Erleuchtung, gute Gefühle, es geht nicht darum irgendein besonderes Stadium von Liebe und Mitgefühl zu erreichen, noch darum besonders viel Schmerzen und unangenehme Situationen auszuhalten, es geht nicht darum möglichst lange regungslos zu sitzen, noch um einen besonderen Zustand der Stille oder Gedankenlosigkeit. Es geht nicht darum an einen Gott zu glauben oder sonst eine tiefere mystische Erfahrung zu machen, es geht nicht darum ein anderer, idealer Mensch zu werden oder mit einer bestimmten Theorie die Welt zu erklären.
Klar kann das eben genannte für mich gerade jetzt wirklich sein,
aber so wie ich es verstehe, ist (wenn man von einem solchen sprechen kann) das Ziel des Zen-Wegs, die Wirklichkeit oder vielleicht genauer,
ganz in dieser Wirklichkeit zu sein.
Oder anders ausgedrückt,
die Wirklichkeit ist der Weg, das was jetzt ist, ist der Weg.

Nun wirst Du sagen: "Was soll der Quatsch, ich bin doch in der Wirklichkeit, ich kann doch gar nicht anders als in dieser Wirklichkeit zu sein. Muss ich deshalb stundenlang mit verknoteten Beinen rumsitzen und nichts tun, oder sogar nach Japan in ein Kloster namens Antaiji fahren, dort um 4 Uhr aufstehen und den ganzen Tag Dinge tun, die ich eigentlich gar nicht tun will? Meine Wirklichkeit hier reicht mir eigentlich ziemlich aus. Außerdem werd du erst mal Vater (Mutter) von 2 (6) Kindern, dann kannst Du mir gerne mal was über die Wirklichkeit erzählen."

Nun abgesehen davon, dass wir schon um 3.45 geweckt werden, hast Du vielleicht recht.
Du lebst wahrscheinlich ein glückliches und ausgefülltes Leben.
Und mit Deinem Mann, Freund, Frau oder Freundin hast Du Dich bestimmt auch nie gestritten.
Nun ich schon.
Gerade dann ist mir aufgefallen, dass, obwohl wir beide in der gleichen Wirklichkeit leben (glaub ich zumindest) es doch ziemlich unterschiedliche Auffassungen und Vorstellungen von dieser zu geben scheint, was dann manchmal auch mal dazu führte, dass man sich dafür entschied, nicht mehr ganz so viel von dieser Wirklichkeit gemeinsam zu erleben.
Nun das kann ziemlich weh tun, und vor 13 Jahren führte das bei mir dazu, dass ein ganzes Gebäude von Vorstellungen und Annahmen über das Leben und die Wirklichkeit bei mir zusammenbrach wie ein Kartenhaus. Das war, als würde ein Vorhang zerreißen und plötzlich hatte ich das Gefühl, die zum ersten Mal die Wirklichkeit so zu sehen wie sie ist. Oder zumindest dachte ich das damals so.
Auf jeden Fall war es eine sehr eindringliche Erfahrung, die - zumindest unbewusst - in mir das Bedürfnis wachrief, mich mehr um diese Wirklichkeit, die ja scheinbar weit über meinen Erfahrungshorizont hinausging, zu bemühen.
Als ich dann vor 11 Jahren Zazen kennenlernte, spürte ich, dass dies für mich der ideale Weg ist, besser in oder zumindest zusammen mit dieser Wirklichkeit zu leben.

Und jetzt bin ich hier in Antaiji.
Nun, auch hier in Antaiji gibt es sehr viel Wirklichkeit.
Und viel Gelegenheit zu üben, in der Wirklichkeit von Antaiji zu sein.
Ich glaube, dass diese Übung zwei Aspekte hat:
Zum einen gestalte ich die Wirklichkeit von Antaiji,
zum anderen gestaltet die Wirklichkeit von Antaiji mich.

Eigentlich muss ich nicht viel tun, um die Wirklichkeit von Antaiji zu gestalten.
Es reicht ja eigentlich schon, dass ich da bin, um die Wirklichkeit von Antaiji grundlegend zu verändern. Ich esse hier das Essen, das hier angebaut wird, ich unterhalte mich mit den anderen Bewohnern hier, im Hondo beim Zazen belege ich einen Platz, der ohne mich von einem anderen genutzt würde. Ohne mich wäre Antaiji wahrscheinlich jetzt anders. Alles, was ich hier tue, hat Auswirkung auf die Wirklichkeit von Antaiji, gestaltet sozusagen diese.
Ich glaube, sich diese Tatsache klar zu machen ist schon ein wichtiger Punkt.
Auch das Bild das ich mir von Antaiji mache, wie ich das Leben hier wahrnehme, hat wieder wesentliche Auswirkungen darauf, wie ich in dieser Wirklichkeit von Antaiji bin.
Ist Antaiji zum Beispiel ein Platz, wo ich andauernd etwas falsch mache und an dem ich ständig kritisiert werde, werde ich mich anders verhalten, als wenn ich in Antaiji einen Ort sehe, an dem ich viele neue Dinge lernen kann - wobei Lernen erstmal damit anfängt, dass ich akzeptiere, dass ich etwas Bestimmtes erstmal nicht kann.
So ist es denke ich ein wichtiger Punkt, zu sehen, dass alles was ich tue - und letztlich auch denke und fühle - Auswirkung auf die Wirklichkeit von Antaiji hat, ich Antaiji damit gestalte und ich damit sozusagen eine gewisse Verantwortung für Antaiji habe.

Was ich ziemlich gut an Antaiji finde, ist, dass man sofort, ohne groß nach warum und wieso zu fragen sieht, dass bestimmte Dinge getan werden müssen:
Das Gemüse muss geerntet werden, sonst haben wir nichts zu essen, das Essen muss gekocht werden aus dem gleichen Grund. Wenn man die Flure ein paar Tage hintereinander nicht putzt, wie beispielsweise während des Sesshin, dann ist es schon so staubig und dreckig, dass selbst ich anfange, mich nicht mehr wohl zu fühlen. Wenn wir kein Holz hacken, können wir kein Essen kochen und im Winter wird es noch kälter als es eh schon ist.
So ist schnell einzusehen, dass man in Antaiji einfach die Dinge tun muss, die getan werden müssen. Nicht nur als Übung und als Selbstzweck, sondern es geht einfach ums Überleben.

Ein weiterer, vielleicht der wichtigste Punkt beim Gestalten der Wirklichkeit, ist die Tatsache, dass die Wirklichkeit immer jetzt ist. Selbst wenn ich mir Gedanken und Pläne für das nächste Jahr mache, passiert das nur jetzt. Das heißt also, wenn ich die Wirklichkeit gestalten will, kann ich das immer nur jetzt tun.
Und so ist es auch ein wesentlicher Unterschied, ob ich zum Beispiel beim Rettichschneiden mit meinem Bewusstsein ganz bei dem Rettichschneiden bin, oder ob ich dabei über die nächste Pause nachdenke. Dann nämlich könnte es passieren, dass das Messer in meiner Hand einschneidende Auswirkungen auf die Wirklichkeit meiner Finger hat.
Andererseits, wenn ich dann voller Hingabe im Rettichschneiden versunken bin, aber das große Ganze aus den Augen verliere, ist es dann so, dass zwar alle meine 243 Rettichscheiben genau 2,7 mm dick sind, aber das Essen nicht pünktlich fertig ist. Während Sesshin kann das fatal sein, denn alle anderen müssen so lange in Zazen sitzen bleiben, bis der Koch mit seinem Essen fertig ist. Wer schon mal hier beim Sesshin mitgemacht hat, weiß: richtig Spaß ist was anderes.
Die Dinge jetzt ganz tun, die man tut ohne den Rest aus den Augen zu verlieren oder anders ausgedrückt: die Dinge mit der ganzen Wirklichkeit zusammen tun, ist vielleicht die wesentlichste Übung hier in Antaiji.
Und auch nicht immer einfach: Oft bin ich mit meinen Gedanken beschäftigt, so dass ich mit manchen Dingen zu langsam bin, manchmal bin ich im Schaffensrausch und will alles supergut und schnell machen und überseh dabei die andern und verletz mich manchmal sogar selbst dabei, und andererseits passiert es immer wieder, dass ich Angst habe Fehler zu machen oder mich zu blamieren, was dann genau dazu führt, dass ich mich überkonzentriere und vor lauter Anspannung noch mehr Fehler mache.
All dies sind Dinge, bei denen ich sozusagen die ganze Wirklichkeit aus den Augen verliere und mein Bewusstsein mit anderen Sachen beschäftigt ist, als ich gerade jetzt zu tun habe - und wie oben gesagt, manchmal stört auch, wenn ich zu sehr auf das konzentriert bin, was ich tue, dann geht der große Zusammenhang verloren.

Der zweite Aspekt der Übung hier ist, sich von der Wirklichkeit von Antaiji gestalten zu lassen.
Auch hier ist es erstmal offensichtlich, dass mein Leben jetzt völlig anders wäre, wäre ich jetzt nicht hier. Ich würde jetzt wahrscheinlich in einem wohlig beheizten Zimmer sitzen und 21.42 Uhr wäre wohl keine Zeit, von der ich sagen würde, dass ich besser früher schlafen gehen sollte. Und so hat das ganze Leben hier, das was ich esse, die Leute denen ich begegne, die Arbeit die ich tue, doch ziemliche Auswirkungen auf mein Leben, wie es jetzt ist, das was ich fühle, denke, wie mein Körper gerade funktioniert. Das heißt also, die Wirklichkeit von Antaiji gestaltet mich auch schon, ohne dass ich viel tue.
Und ich glaube dieses "Nicht-Tun" ist ein wichtiger Schlüssel dafür, sich auf die Wirklichkeit einzulassen oder zu überlassen, und sich sozusagen von der Wirklichkeit gestalten zu lassen.
Nun "Nicht-Tun" soll nun nicht heißen, dass ich morgens im Bett liegen bleibe und den ganzen Tag nichts tun soll (obwohl ich dazu ehrlich gesagt auch mal unglaubliche Lust hätte).
Nein, ich meine eher, vor dem Leben hier nicht wegzulaufen, nicht sein eigenes Ding zu machen, nicht vor den Leuten wegzulaufen oder vor einer bestimmten Verantwortung. Und auch nicht sich in seine eigene Gedanken zu flüchten und seine eigenen Ideen von Praxis und Zen zu bauen. Wenn ich auf diese Weise "nicht tue", dann lasse ich mich vielleicht besser auf die Wirklichkeit von Antaiji ein und bin besser hier mit den Leuten zusammen.
Am stärksten tritt für mich dieser Aspekt von Nichts-Tun beim Zazen zutage: Zazen ist für mich die ideale Haltung, in der der Körper zum einen aufgerichtet ist und sein volles Potential "leben" kann, andererseits einfach nichts tun braucht, außer zu leben.
Wenn ich nichts tue, dann hat die Wirklichkeit eine Chance mich zu gestalten und zu verändern. Sozusagen die Wirklichkeit tut mich.
Nun auch dieses nicht tun ist nicht gerade so einfach. Ich kann zum Beispiel nicht "nicht denken". Dann bin ich voll damit beschäftigt nicht zu denken, und tu damit ja auch wieder ziemlich viel. Damit ist man mindestens so viel und erfolglos beschäftigt, wie mit Luftanhalten. So ist es vielleicht besser, zwar das Denken nicht bewusst zu tun und zu unterstützen, aber auch nicht anzuhalten. So braucht denn dieses Nicht-Tun (oder in dem Fall Nicht-Denken) eine tiefere Basis. Deshimaru-Roshi sprach in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Dogen über das "Denken aus den Grunde des Nicht-Denkens".
Man könnte das vielleicht auch erweitern auf "Tun aus den Grunde des Nicht-Tuns".
Was immer nun dieser Grund des Nicht-Denkens oder Nicht-Tuns sein mag,
ich glaube, es ist nichts anderes als die gegenwärtige Wirklichkeit selbst.

Um das Ganze jetzt noch mal zusammenzufassen,
die Übung hier in Antaiji ist ganz einfach:
Einfach ganz in der Wirklichkeit von Antaiji zu sein.
ich glaube, dass diese Übung zwei grundlegende Aspekte hat:
einmal ich gestalte die Wirklichkeit und andererseits, die Wirklichkeit gestaltet mich.
Auch wenn ich das hier als zwei getrennte Dinge beschrieben habe, glaube ich, dass diese zwei Aspekte letztlich zusammenkommen. Sowohl bei unserer täglichen Arbeit, beim Zazen und auch wenn wir mal Party hier machen, wie zum Beispiel morgen, wenn Eryusan kommt (worauf ich mich schon sehr freue).
Und letztlich ist für mich in der Wirklichkeit von Antaiji zu sein, selbst wenn es manchmal schwierig wird, etwas total zufrieden Stellendes, ohne dass ich das mit Worten erklären könnte.

Heiko 光法Henrich

Switch to Japanese Switch to French Switch to English