Jahrbuch 2010

Antaiji


Muho (42, Antaiji)


Ganze Arbeit

“Lebe ich eigentlich, um zu arbeiten? Um Gottes Willen, nein! Das wäre ja die Hölle. Ich arbeite, um zu leben! Und je weniger ich für mein Leben arbeiten muss, desto mehr Zeit bleibt mir, um zu leben. Denn eine Minute weniger bei der Arbeit bedeutet ja eine Minute mehr für mich selbst. Wenn ich zwischen der Arbeit und dem Leben wählen müsste, da würde ich nicht lange überlegen!”

Arita, Baba und Chie, drei japanische Studenten, jobben während der Sommerferien in einem Sushi-Restaurant. Der Chef lässt alle drei an der Spüle stehen und Teller waschen. Tag ein, Tag aus. Arita hasst den Job, aber er braucht das Geld. Er verkauft seine Zeit, doch in Gedanken ist er bereits wo anders, bei seiner Freundin. Er kann es gar nicht erwarten, sie zu treffen. Wann macht der Laden endlich zu? Baba ist da etwas gewissenhafter. Für sein Geld will er die Teller picobello abliefern. Fast wie ein Zenmeister scheint er auf seine Arbeit konzentriert, doch sein Geist reicht nicht über die Spüle hinaus. Warum auch? Sein Job ist das Tellerwaschen, mehr nicht. Nur Chie interessiert sich für das, was um sie herum im Restaurant vorgeht. Während sie neben Arita und Baba die Teller wäscht und ins Regal räumt, beobachtet sie auch den Chef am Tresen, der den Fisch schneidet und den Reis zu Bällen formt. Auch während ihre Augen auf die Teller gerichtet sind, entgeht ihren Ohren doch die Reaktion der Gäste auf die Kreationen des Chefs nicht. Auch nach Ladenschluss steht sie manchmal noch am Tresen um dem Chef beim Schaerfen seiner Messer zu assistieren.

Für den letzten Tag ihrer Arbeit hat sich der Chef eine besondere “Belohnung” ausgedacht. Heute, so sagt er den dreien, sollen sie selbst am Tresen stehen und die Sushi bereiten, während er die Teller wäscht. Doch Arita ist verärgert: Er wird doch für das Tellerwaschen bezahlt, nicht dafür, die Sushi zu machen! Auch Baba wirkt hilflos. Er sagt:

“Dann erklären Sie mir doch erst einmal bitte, wie man die Sushi fachgerecht zubereitet.” Doch der Chef ist ein Koch der alten japanischen Schule: “Was redest du! Wo warst Du denn die ganze Zeit? Mehrere Wochen standst du hinter mir, während ich dir ein praktisches Beispiel des Sushi-Handwerks geboten habe. Und du willst, dass ich dir noch etwas beibringe?” Allein Chie ist heute in der Lage, die Gäste mit ihren Sushi zu erfreuen.

Arita, Baba und Chie bekamen für ihre Dienste vom Chef den gleichen Lohn ausgezahlt, auch wenn ihre Leistungen im Restaurant nicht unterschiedlicher hätten sein können. Doch nicht nur haben die drei ganz verschiedenes im Restaurant geleistet, sie bekamen auch ganz verschiedenes zurück: Arita bekam nichts außer dem Geld, denn er war nur körperlich präsent im Restaurant, sein Geist war davon, seine Zeit verkauft und verloren. Baba war zum perfekten Tellerwäscher geworden. Doch auch sein Geist hatte von dem, was über die Spüle hinausreichte, nichts erfasst. Seine Welt hatte nur das Ausmaß des Quadratmeters, auf dem er stand. Nur Chie hatte das ganze Restaurant in ihr Herz geschlossen. Sie hatte sich nicht nur ein Taschengeld verdient, sondern eine ganze neue Welt um sich herum entdeckt. Sie hatte nicht nur gearbeitet, sondern durch ihre Arbeit gelebt. Der Unterschied lag nicht in ihrer Arbeit, sondern in ihrer Einstellung zur Arbeit.

Selbstgespräch

Du träumst vom erfüllten Leben. Du sagst: "Mein Leben ist wie ein Puzzlespiel, bei dem die Teile einfach nicht passen wollen. Ich habe das Gefühl, dass ich die wichtigsten Stücke noch gar nicht gefunden habe." Also kriechst du unter dem Teppich und hinter dem Sofa herum, auf der Suche nach den verlorenen Puzzlestücken deines Lebens. Warum schaust du nicht nach links und rechts, und überlegst dir einmal, ob deine Teile die fehlenden Stücke im Puzzle eines anderen sein könnten? Wir spielen das Puzzle des Lebens gemeinsam, nicht jeder für sich allein.

Du fragst: "Was ist Realität? Ist sie innen oder außen? Gibt es nur eine oder viele? Erschaffe ich sie erst oder teile ich sie mir mit allen anderen? Oder ist sie so nah, dass sie zugleich ungreifbar erscheint?" Realität liegt vor dieser Trennung. Du kannst nicht aus ihr heraus oder an sie heran treten, du kannst sie auch nicht erschaffen, denn dieses Heraus- und Herantreten sind genauso wie das innerliche Erschaffen selbst bereits Realität.

Du fragst: "Trotzdem noch einmal: Was ist Realität ganz konkret?" Deine Frage ist die Realität.

Du fragst dich: "Und wer bin ich?" Wer stellt eigentlich die Frage?

Du sagst: "Ich weiss es nicht." Genau das bist du!

Du fragst: "Was soll ich tun?" Gute Frage, aber an wen ist sie gerichtet?

Du fragst: "Was ist der Sinn des Lebens?" Bessere Frage: Wie viel Sinn gibst du deinem Leben?

Du sagst: "Ich will noch mehr aus meinem Leben heraus holen!" Ich wüsste lieber: Wieviel gibst du von dir an das Leben?

Du sagst: "Alles ist fad!" An wem liegt das nur?

Du sagst: "Die Welt ist ungerecht!" Ungerecht zu wem? Zu dir? Was erwartest du denn?

Du sagst: "Die anderen haben es besser als ich!" Und was sagen die anderen?

Du sagst: "Das habe ich doch nicht verdient!" Was genau hast du verdient?

Du sagst: "Das darf doch nicht wahr sein!" Warum nicht?

Du fragst: "Warum muss es ausgerechnet mich treffen?" Wenn hätte es denn treffen sollen?

Du sagst: "Ich werde es ihm heimzahlen!" Was trägst du damit zur Lösung des Konfliktes bei?

Du sagst: "Das ist nicht mein Problem!" So wirst du zum Problem der anderen.

Du sagst: "Das wusste ich nicht!" Ignoranz ist keine Entschuldigung.

Du sagst: "Ich bin von Arschlöchern umgeben!" Du lebst dein Leben im Spiegelkabinett.

Du sagst: "Du ärgerst mich!" Nein, du ärgerst dich.

Du sagst: "Ich wurde an der Nase herum geführt!" Du meinst: Du hast dich an der Nase herumführen lassen.

Du sagst: "Könnt ihr nicht endlich einmal still sein? Ihr geht mir so auf den Geist!" Warum bringst du nicht erst einmal deinen eigenen Geist zur Ruhe?

Du sagst: "Meine Eltern verstehen mich nicht." Verstehst du deine Eltern?

Du sagst: "Meine Kinder hören mir nicht zu." Hörst du deinen Kindern zu?

Du sagst: "Dieses Mal ist es mir wirklich ernst!" Hattest du das nicht schon letztes Mal gesagt?

Du sagst: "Auf immer und ewig!" Du meinst: Solange sich meine Meinung nicht ändert. Welcher unterschied könnte größer sein?

Du sagst: "Ich liebe sie mit ganzem Herzen!" Du meinst, du bist total verliebt. Ob du sie liebst, wird nur sie selbst dir sagen können. Und auch das erst in frühestens zehn Jahren.

Du fragst: "Habe ich durch meine Zazen-Praxis Fortschritte als Mensch gemacht?" Frag lieber deine Familie. Oder frag deine Arbeitskollegen.

Du sagst: "Arbeit und Familie nehmen mir die Zeit weg!" Warum, du hast doch Zeit für die Arbeit, und Zeit für die Familie.

Du sagst: "Ja, aber wo bleibt die Zeit für mich selbst?" Gibt es denn eine Minute des Tages, die nicht dir selbst gehört?

Du sagst: "Arbeite ich eigentlich noch um zu leben, oder lebe ich bereits nur noch, um zu arbeiten?" Meine Frage: Warum die Trennung?

Du fragst: "Und was mache ich, wenn ich krank werde?" Mach gar nichts. Am Ende heilt der Tod jede Krankheit.

Im schlimmsten Fall wirst du sterben. Aber auch das ist nur halb so schlimm.

Ein Mensch stirbt: Alltag. Du stirbst: Der Weltuntergang!

Du sagst: "Ich will nicht sterben!" Aber danach hat niemand gefragt. Meine Frage: Wer würde dich vermissen?

Du hast Angst, Zazen könnte dich umbringen? Keine Sorge, hinter der Sitzhalle liegt der Friedhof.


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