Jahrbuch 2008

Antaiji


Guido (Frankfurt, 44, Verleger)

Dies sind die Vier Edlen Wahrheiten, die ich erkannt habe:

1) Das Leben ist Freude.

2) Die Ursachen der Freude sind: Begehren, Abneigung und Unwissenheit.

3) Erlöschen die Ursachen, erlischt auch die Freude.

4) Der Weg dorthin ist der „Edle Achtfache Pfad“.

Gut, die Idee ist wohl nicht originell. Aber als ich neulich auf einer Website las, ein Teil des Achtfachen Pfades sei der Verzicht auf Genuss, fragte ich mich mal wieder, warum zum Teufel manche Buddhisten das Leben so unnötig kompliziert machen müssen. Wenn wir die Edlen Wahrheiten vom Leiden, von dukha, einmal von der anderen Seite betrachten, dann erkennen wir vor allem eins: dass Leiden wie Freude zum Leben gehören und nach buddhistischer Ansicht keine Substanz haben, also leer und vergänglich sind. Was aber, wenn man sich des vergänglichen Charakters etwa seines Begehrens bewusst ist? Kann dieses Begehren nicht trotzdem genossen werden? Ist es nicht in den Momenten, die normalerweise für Menschen das größte Glück bedeuten (etwa beim Orgasmus) nichts weiter als bewusst wahrgenommene Gegenwart? Gibt es in diesen Momenten tatsächlich Platz für Unterscheidung, für Einteilungen in Gut und Böse, irgendeinen Zweifel an der Richtigkeit des Erlebten, an dessen „Wahrheit“? Ein sexueller Höhepunkt, ein wohlschmeckendes Stück Fleisch, ein duftendes Parfüm, ein bequemes Bett – das alles mag dem Ordinierten verpönt sein, und doch kann er genau darin die Erkenntnisse des Buddha nachvollziehen, und sie fortan wiederholt erleben, ohne daran zu haften oder viel Gedöns darum zu machen.

Es ist an der Zeit, Ordensregeln zu überdenken. In den letzten Wochen bin ich einigen Ordinierten begegnet, deren größter gemeinsamer Nenner die Ablehnung einer lustvollen Sexualität war. Es wird ihnen so nicht nur unmöglich sein, allen Wesen zur Verwirklichung ihrer Buddha-Natur zu verhelfen (weil der gewöhnliche Mensch eine instinktive Abneigung gegen asexuelles Leben hegt). Es zeigt auch, wie Ordinierte geradezu verzweifelt an überlieferten Ordensregeln festhalten, um eine der größten Quellen menschlichen Leides zu meiden, die mit intimen Begegnungen verbunden sein kann. Dabei besteht gerade hier ein ideales Übungsfeld fürs Annehmen und Loslassen vergänglicher Freuden und Leiden, so wie sie sind.

In manchen buddhistischen Schulen wird besonders die Aufmerksamkeit eingeübt - beim Meditieren, beim Gehen, bei Alltagshandlungen; in anderen glaubt man an ein Kensho- oder Satori-Erlebnis, eine plötzliche Erfahrung von Erleuchtung oder von Alleins-Sein. Jene konzentrierte Bewusstheit und Verbundenheitserfahrung ist tatsächlich nicht nur im asketischen Ordiniertenleben, sondern sogar im „schmutzigsten“ Sex möglich. In ihrer Leere und Vergänglichkeit ist sie in der Tat mit dem Sitzen in Versenkung eins. Wer an dem einen nicht haftet, muss es auch am anderen nicht – und kann sich so selbstverständlich dem Sex hingeben wie dem Zazen.


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