Jahrbuch 2009

Antaiji


Harald (Heidelberg, 38, Programmierer)


Am frühen Morgen des 5.11. 2008 stieg ich auf mein Fahrrad und machte mich auf den Weg zur Arbeit. Auf einem unbeleuchteten abschüssigen Feldweg bin wohl aus Unachtsamkeit vom Weg abgekommen und erinnere mich noch, dass plötzlich vor mir ein Brückengeländer auftauchte. Nach meiner Erinnerung der örtlichen Gegebenheiten sollte sich dieses Geländer eigentlich rechts von mir befinden -ich erinnere mich noch sehr gut an mein Erschrecken darüber- aber da war es auch schon zu spät. Ich stürzte kopfüber über in die Dunkelheit.

Ich weiß nicht mehr wie ich aufkam, aber ich fand mich in einem betonierten Abflussgraben wieder der etwa anderthalb Meter unter der Brücke verlief. Ich hatte keine besonderen Schmerzen, aber meine Arme gehorchten mir nicht. Ich konnte sie zwar spüren aber nur ganz unkoordiniert bewegen. Glücklicherweise dauerte dieser Zustand nur ein zwei Minuten an. Ich rappelte mich auf, zog mein Fahrrad aus dem Graben und fuhr wieder nach Hause.

Abgesehen von einer kleinen Platzwunde am Hinterkopf und Blutergüssen an Armen und Beinen schien ich unverletzt zu sein, also fuhr ich wieder (diesmal per Auto) zur Arbeit. Ich konnte zwar schlecht laufen, aber das ist bei einem Bürojob ja keine große Behinderung. Gegen Abend jedoch entwickelten sich an beiden Augen Veilchen was mich sehr erstaunte, da ich im Gesicht ja keine Verletzungen hatte. Ich ließ mich also von meiner Frau überreden, doch ins Krankenhaus zu fahren, damit man mich einmal durchchecken konnte. Dort angekommen waren die beiden Veilchen anscheinend eine gute Diagnose: ich wurde sofort am Kopf geröntgt und in der Tat hatte ich eine leichten Schädelbruch davongetragen. Was allerdings ernster wog, war ein Bluterguss zwischen Schädel und Hirn. Der behandelnde Arzt sagte, dass man wohl diesen Bluterguss operativ entfernen musste, damit er nicht irgendwelche Arterien im Hirn abdrückt. Auf jeden Fall musste ich die Nacht in der Intensivstation verbringen, damit man meinen Zustand beobachten konnte.

Mittlerweile hatte sich mein Befinden auch ziemlich verschlechtert (oder war das nur eine Reaktion auf den Befund?). Im Liegen wurde mir sehr schwindlig, daher verbrachte ich die Nacht auf der Intensivstation im Sitzen, angeschlossen an allerlei Gerät. Pünktlich alle Stunde kam ein Pfleger und kontrollierte meine Reflexe.

Im Nachhinein denke ich, dass in dieser Nacht die „Gefahr“ bereits vorbei war (ich war ja unter ständiger Kontrolle und selbst die eventuell notwendige Operation ist wohl ein Routineeingriff), deshalb war die Todesangst, die ich in dieser Nacht durchlitt wohl ziemlich übertrieben und vor allem durch den Schock bedingt. Und doch hatte ich sie: da ich den Schwindel mit der Größe des Blutergusses in Verbindung brachte, traute ich mich nicht, mich zu bewegen, da das den Schwindel hervorrief. Ich war stellenweise davon überzeugt, dass ich die Nacht nicht überleben würde. Gedanken an meine Frau und Tochter gingen mir durch den Kopf und wie sehr mein Leben doch verpfuscht war. Um meine Angst zu beherrschen, nahm ich Zuflucht in solche Gedanken wie“ dieser Atemzug ist alles, was ich habe und mehr brauche ich auch nicht“ etc. Die Angst wurde dadurch jedoch nicht weniger. Irgendwann bin ich dann eingeschlafen.

Am nächsten Morgen blätterte ich in „die Zen Sprüche des heimatlosen Kodo“. Glücklicherweise konnte ohne Probleme lesen obwohl ich ziemliche Sprach- und Ausdrucksstörungen hatte (bei einen klinischen Psychotest sollte ich innerhalb von zwei Minuten möglichst viele Tierarten aufzählen: nach 40 Sekunden und ca. 10 Tieren verstummte ich..).

Meine Faulheit, Schwäche und Tendenz Dinge zu tun von denen ich weiß, daß ich sie nicht tun sollte haben mich schon seit jeher beschämt. Und trotzdem kann ich mich nicht bessern. Ich habe mein Leben immer unter folgendem Bild gesehen: „Stell Dir vor, Du sollst einen schweren Stein heben. Das erste Mal gehst Du frohen Mutes an die Arbeit, aber „hoppla, der scheint schwerer als gedacht zu sein. Na, dann probieren wir’s mal so...“ Du wechselst die Stellung, versuchst woanders Halt zu finden, aber der Stein bewegt sich nicht. Du versuchst es noch mal, mit alle Kraft. Kein Erfolg. Nach weiteren eher halbherzigen Versuchen setzt Du Dich daneben und versinkst in Trübsal. Nach einiger Zeit verblasst die Erinnerung an Dein Scheitern und weil Du keine andere Wahl hast, versuchst Du es immer wieder, aber der Abstand zwischen den Versuchen wird immer größer und die Energie, die Du hineinsteckst immer geringer. Du fragst Dich, wie lange Du noch mit dieser Lüge im Herzen leben kannst, mit dieser trügerischen Hoffnung, daß sich irgendetwas in Deinem erbärmlichen Leben ändern könnte. Wenn Du Dich wenigstens als Teil einer Dramas sehen könntest, als tragischer Held dem unmenschliches abverlangt wird. Aber der banale und belanglose Alltag höhlt Dich aus. Usw. usw.“

Kodo Sawaki: „Ich lebe mein Leben so, als würde ich über dünnes Eis gehen. Mit der größten Vorsicht und dem größten Respekt.“1)

Gib alles, was Du hast, sei so vorsichtig und wachsam wie möglich. Auch wenn das Eis dann bricht und Du versinkst, wird Dein nächster Schritt eben trotzdem dünnes Eis spüren. Oder anders gesagt: in dem Moment wo ich unwürdig lebe, bin ich verdammt. Aber schon im nächsten Moment habe ich wieder die Wahl, erfüllt oder unwürdig zu leben. (Die große Gefahr hier ist, daß man sich sagt „Ich leb jetzt mal ein bisschen lockerer, morgen kann ich mich ja wieder anstrengen…“) Jeder Moment beginnt von vorne, ich kann weder Meriten noch Sünden ansammeln. In diesem Sinne gibt es gar nicht „den Stein“. Das ganze Bild ist falsch. Es gibt nichts zu erreichen, schon gar nicht den Zustand, in dem man nichts mehr erreichen will. Es geht nicht darum, sich etwas Großes vorzunehmen und dies das ganze Leben durchzuhalten sondern JETZT aufzupassen. Und wenn ich JETZT aufpasse, dann gibt es dafür auch keine Belohnung, sondern dann muß ich einfach weiter aufpassen, wie wenn ich über dünnes Eis gehe.

Der Unfall war ein Neuanfang. Aber nicht nur der Unfall, jeder Moment birgt einen Neuanfang.

Ich bin ein Mensch voller Illusionen und Schwächen und das werde ich auch immer bleiben. Für Zazen bin ich denkbar unbegabt. Aber erstens hat das auch sein Gutes, denn dann werde ich Verständnis für meine Mitmenschen und ihre Illusionen und Schwächen haben. Und zweitens ist DAS nicht das Problem. Wie ich mit meinen Illusionen und Schwächen umgehe, das ist das Problem. Und der Stein ist sowieso nicht schuld.

Mit diesen meinen Illusionen und Schwächen umzugehen, dabei hilft mir glaube ich Zazen. Zazen sollte mir den Hintergrund hinter den Illusionen und Schwächen zeigen. Dieser Hintergrund macht den Eindruck der Tiefe und Abgeschlossenheit. Er ist tief (oder besser unergründlich) weil es in ihm naturgemäß keine Relationen gibt, alles spielt sich ja davor ab. Und er ist abgeschlossen, weil es außer ihm wirklich nichts mehr gibt. Da ist nichts mehr. Ich bin jetzt hier, im Hintergrund meiner Illusionen und Schwächen und das ist alles. Es gibt sonst nichts, es kann sonst gar nichts geben und das wird immer so sein. Deshalb heißt es wohl auch, daß man im Zazen immer Anfänger bleibt: Ist man kein Anfänger, so hat man Routine. Aber man muß beim Zazen ALLES umfassen: die Langeweile, die Tagträume, die Schmerzen und auch die Routine. Und das alles muß man IMMER WIEDER umfassen: ich kann auch hier keine Meriten ansammeln.

Kodo Sawaki: „Zum ersten mal in Deinem Leben praktizierst Du Zazen am heutigen Tag. Begegne jedem Tag deshalb mit demselben frischen Geist, den Du zu Neujahr hast. In Zazen ist jeder Tag ein Neujahrstag. Einen guten Rutsch! Die Frage und der Inhalt deiner Praxis in diesem Moment muss sein, wie Du jedem einzelnen Augenblick neu begegnest.“2)

„Wenn wir mit allem, was uns begegnet als ‚mein eigenes Leben’ üben, begegnen wir dem wahren Selbst“ 3)

„Vielleicht reicht es (die innere Kehrtwendung) nicht für lange Zeiträume; dann löse Dich wenigstens für den Augenblick von Deinem Ego. Praxis bedeutet, das Ego in jedem Augenblick von neuem loszulassen.“ 4)

Nach meinem Unfall hatte ich die Vorstellung, daß ich „im Plus“ bin. Dieses Plus will ich zurückgeben. Im Vergleich zu diesem Plus verblassen meine Illusionen und Schwächen. Aus keinem besonderen Grund habe ich noch ein paar Jahre (?) geschenkt bekommen. Was soll ich damit anfangen? Etwa weiter meinen Mitmenschen mit meinen Extrawünschen auf die Nerven gehen? Weitermachen mit dem „Kampf ums Dasein“? Weiterhin beleidigt sein, wenn mir jemand durch sein Verhalten einen Spiegel vorhält? Nun, vielleicht wäre es dann ja besser für meine Umwelt, wenn ich damals gestorben wäre?

Kodo Sawaki: „Was für eine Schande, als Mensch geboren zu sein und nichts daraus zu machen.“

Was für eine Schande, als Mensch geboren zu sein und von seinen Illusionen und Ängsten an der Nase herumgeführt zu werden. Was für eine Schande, als Mensch geboren zu sein und von den Dingen nur an- und abgestoßen zu werden…

Aber wir müssen ihnen ja gar nicht nachrennen, so wie wir beim Zazen auch nichts machen müssen: wir müssen nicht unseren Gedanken folgen, wir müssen nicht einmal auf unseren Atem achten. Es atmet sich von alleine und wir können den Atem in Ruhe lassen.

Man kann auch nur dabei sein ohne einzugreifen. Man kann auch nur dabei sein, wenn das Gehirn Gedanken in uns reinwirft oder abseits von Zazen die Wünsche Form annehmen sobald wir nichts zu tun haben. Aber auch diese Wünsche MÜSSEN wir nicht befolgen (eigentlich eine Selbstverständlichkeit, umso erstaunlicher, daß es für mich keine ist). Sie haben Macht -und oft genug folgt man ihnen-, aber es ist OK, sie zu ignorieren. Wir müssen dann nicht frustriert sein. Diese Wünsche sind Teil meiner Welt. Und es besteht erstmal gar keine Notwendigkeit diese Welt in Innen und Außen zu unterteilen.

Wie wäre es denn, wenn man Wünsche z.B. mit dem Wetter (dessen Einfluß natürlich auch gewaltig ist) vergleicht? Wenn es regnet, sollte man besser zuhause bleiben. Wenn man aber -warum auch immer- raus muß, dann muß man halt raus, notfalls auch ohne Regenschirm. Es besteht gar kein Grund mit dem Wetter zu hadern. Wenn ich etwas Langweiliges tue, dann kann es OK sein, damit aufzuhören und etwas Interessanteres zu tun. Wenn ich aber -warum auch immer- etwas Langweiliges tun muß, dann muß ich es halt tun. Kein Grund zur Frustration.

Vielleicht kann man es so sagen:

Man kann einen Wunsch als Teil von sich im Gegensatz zur Außenwelt betrachten. Dieser Wunsch füllt mich dann aus und ich kämpfe mit der Welt, damit sie sich meinem Wunsch anpasst („Kampf ums Dasein“). Wenn sie das nicht tun, bin ich frustriert.

Man kann einen Wunsch aber auch als Teil der Landschaft in der ich lebe auffassen. Wünsche haben die Tendenz, den Blick auf sie zu ziehen, trotzdem sind sie nur ein Teil, und man sollte die übrige Landschaft nicht aus den Augen verlieren. Die Welt in ihrer Gesamtheit ist weder gut noch schlecht, sie ist einfach so wie sie ist.

Ich fürchte, ich gerate hier ins Stottern und werde immer nebulöser.

Ich will es anders versuchen: in der westlichen Kultur gibt es verschiedene Arten, mit unseren Wünschen umzugehen, z.B.

Entsagung (man arrangiert sich schweren Herzens),

Askese (man reißt sich zusammen um den Wunsch abzutöten)

Frustration (nicht erfüllte Bedürfnisse machen Dich krank)

Sublimierung von Bedürfnissen (man wendet die Frustration ins Positive)

aber nicht die Vorstellung, daß es einen Unterschied zwischen dem Selbst und den Wünschen gibt und das man die Wünsche auch so lassen kann wie sie sind.

Man muß Wünsche nicht zähneknirschend bekämpfen und man muß auch nicht automatisch frustriert werden wenn ein Wunsch unerfüllt bleibt. Der nächste Wunsch kommt dann auch nicht unbedingt umso stärker, sodaß es sowieso vergeblich wäre, dagegen zu kämpfen.

Nicht: WENN ich meinen Wünschen nicht nachgebe, SO werde ich erlöst werden, sondern: WEIL es ja gar keinen Grund zur Sorge gibt, KANN ich meine Wünsche ignorieren…

Was machen wir Menschen uns für Sorgen, kämpfen und ackern. Wollen dieses und gehen jenem aus dem Weg. Es ist wirklich viel besser, davon abzulassen…

1) Kodo Sawaki: „Zen ist die größte Lüge aller Zeiten“ S. 49

2) Kodo Sawaki: „Zen ist die größte Lüge aller Zeiten“ S. 19.

3) Kosho Uchiyama: „Die Zen-Lehre des Landstreichers Kodo“ S. 101

4) Kodo Sawaki: „Zen ist die größte Lüge aller Zeiten“ S. 122.


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