Antaiji

Kloster des Friedens

Die Nacht in der transgalaktischen Eisenbahn
11. Die Pfauenmusik


   Die beiden Geschwister waren bereits erschöpft auf ihren Plätzen eingeschlafen. Sie trugen weiße, weiche Schuhe an den Füssen, die eben noch nackt gewesen waren. Der Zug indes rüttelte weiter entlang am Ufer des phosphoreszierenden Flusses. Hinter dem Fenster auf der anderen Seite leuchteten Felder, als würden sie von einer Laterna Magica dorthin projektiert. Hunderte, nein tausende von Signaltriangeln waren da, groß und klein, die großen an der Spitze mit rot gefleckten Messfahnen versehen. Sie dehnten sich endlos über die Felder aus wie ein bleicher Nebel. Aus dessen Mitte, und von weit jenseits des Nebels, stiegen immer wieder Rauchzeichen in allen möglichen Formen in den Himmel auf, der so herrlich violett wie eine Ballonblume war. Der Wind war frisch und klar, erfüllt von Rosenduft.
   „Haben Sie schon einmal einen solchen Apfel gesehen?“, fragte da der Leuchtturmwärter. Er hielt große, rot-golden gefärbte Äpfel auf seinem Schoß, mit beiden Händen darauf achtend, dass sie ihm nicht zu Boden fielen.
   „Hoppla, wo haben Sie denn die her? Die sind ja prächtig! Wachsen solche Äpfel denn hier in der Gegend?“
   Wirklich überrascht reckte der junge Mann seinen Hals. Er konnte die konzentriert zusammen gekniffenen Augen gar nicht von dem Haufen Äpfel in den Händen des Leuchtturmwärters lassen.
   „Naja, probieren Sie doch erst einmal einen. Bitte schön!“
   Der junge Mann nahm sich einen und drehte sich dann zu Giovanni und Campanella um: „Na, Ihr beiden Buben, wollt Ihr auch einen?“
   „Ja danke!“, sagte Campanella, während Giovanni noch beleidigt schwieg, weil der Mann ihn einen „Buben“ genannt hatte. Doch als der Mann beiden jeweils einen Apfel überreichte, erhob sich auch Giovanni, um sich zu bedanken. Jetzt hatte der Leuchtturmwärter endlich die Hände frei, um auch auf die Kniee des schlafenden Geschwisterpaares vorsichtig je einen Apfel zu legen.
   „Vielen Dank. Aber wo haben Sie denn diese herrlichen Äpfel her?“, fragte der junge Mann, der noch immer nicht aus dem Staunen heraus gekommen war.
   „Natürlich betrieben wir auch Landwirtschaft, aber das allermeiste wächst hier ganz von selbst. Deshalb macht die Feldarbeit keine Mühe. Wir sähen einfach aus, was wir uns wünschen, und die Früchte reifen dann von allein. Und unser Reis ist auch ganz anders als der am Pazifik. Er hat keine Hülsen, die Körner sind zehn Mal so groß und er riecht auch viel besser. Aber da, wo Sie hinfahren, gibt es längst keine Landwirtschaft mehr. Und die Äpfel und Kuchen, die man dort isst, verursachen nicht den geringsten Abfall. Sie werden lediglich als ein leichter, angenehmer Duft von den Poren ausgeschieden, der sich von Person zu Person unterscheidet.“
   Plötzlich öffnete der kleine Junge die Augen: „Ich habe von meiner Mama geträumt. Die Mama stand zwischen hohen Bücherregalen. Sie hat mir die Arme entgegen gestreckt und gelacht. Da habe ich gesagt: ‚Mama, ich habe einen Apfel. Willst Du ihn?’ Und dann bin ich aufgewacht. Jetzt sitze ich wieder in der Eisenbahn, stimmt’s?“
   „Aber der Apfel liegt auf Deinem Schoß. Der ist ein Geschenk von dem Herrn dort.“, antwortete der junge Mann.
   „Danke schön!“, sagte der Junge und blickte dann zu seiner Schwester.
   „Die Kaoru schläft ja noch immer. Ich werde sie aufwecken... Kaoru! Da ist ein Apfel für Dich. Wach doch auf!“
   Da öffnete das Mädchen lächelnd die Augen, die sie jedoch gleich mit beiden Händen gegen das blendende Licht abschirmte, um dann den Apfel zu betrachten. Der Junge aß seinen Apfel indessen in großen Stücken, fast so als wäre es ein Stück Torte. Die Schale, sorgsam in einem Stück geschält, fiel wie ein Korkenzieher herab. Doch bevor sie den Boden erreichen konnte, fing sie an zu zischen und grau zu leuchten, dann hatte sie sich in Nichts aufgelöst.
   Giovanni und Campanella verstauten ihre Äpfel in den Taschen. Flussabwärts, am anderen Ufer, erschien nun ein dichter, blauer Wald. In den Zweigen der Bäume leuchteten eine Vielzahl saftig-roter, runder Früchte, und in der Mitte des Waldes stand ein sehr, sehr großes Signaltriangel. Aus dem Wald klang eine wunderschöne Musik herüber, darunter auch die Becken und Xylophone eines Orchesters. Als die einzelnen Klänge im Wind dahinschmolzen und wie Wellen daher gespült wurden, zuckte der junge Mann erschrocken zusammen.
   Während sie schweigend der Melodie lauschten, breiteten sich überall vor ihnen leuchtende Felder - oder waren es Teppiche? - in gelben und hellgrünen Farben aus. Auch schien es, als liefen der Sonne Tautropfen aus weißem Wachs über das Gesicht.
   „Guckt mal, da sind Krähen!“, rief neben Campanella das Mädchen mit dem Namen Kaoru.
   „Das sind doch keine Krähen. Das sind alles Elstern.“, rief Campanella in einem unbeabsichtigt rechthaberischen Ton. Giovanni musste lachen während Kaoru ganz verschämt aussah. Tatsächlich hatten sich die schwarzen Vögel in einer langen, langen Reihe am Flussufer niedergelssen, als wollten sie sich in dem bleichen, bläulichen Licht des Flusses baden.
   „Ja, das sind Elstern. Man erkennt sie an den Federn, die ihnen hinten vom Kopf abstehen.“, sagte der junge Mann beschwichtigend.
   Das Signaltriangel im blauen Wald stand ihnen jetzt direkt gegenüber. Da ertönte weit hinter ihnen im Zug eine Melodie, die sie als den Choral „Näher, mein Gott, zu Dir“ wieder erkannten. Eine Unzahl von Stimmen musste da im Chor singen. Der junge Mann stand auf, bleich im Gesicht, und wollte sich in die Richtung bewegen. Sofort besann er sich eines Besseren und setzte sich wieder. Die kleine Kaoru hielt ein Taschentuch vor das Gesicht gepresst. Auch Giovanni schien plötzlich eine Schnupfnase zu haben. Unterdessen klang der Chor immer klarer und lauter. Eine Stimme nach der anderen schloss sich ihm an, und ehe sie sich recht versahen, sangen auch Giovanni und Campanella mit.
   Auf der anderen Seite des unsichtbaren Himmelsflusses zog ein Hain aus grünen Balsambäumen hell leuchtend an ihnen vorbei. Und über den Klang der seltsamen Instrumente, der aus jener Richtung zu ihnen herüber geweht worden war, legte sich irgendwann das Geräusch des ratternden Zuges und das Pfeifen des Windes.
   „Pfauen! Da sind Pfauen!“, schrie der Junge.
   „Du meinst in dem Wald dort? Das muss die Heimstatt der Leier sein. Ich glaube, dass da die Musiker eines sehr alten Orchesters wohnen. Deshalb versammeln sich dort bestimmt auch so viele blaue Pfauen.“, sagte seine Schwester.
   Giovanni sah nur noch ein bläulich-weißes Licht über dem Wald aufflackern, der inzwischen so winzig klein war wie ein grüner Muschelknopf. Das war die Lichtreflexion in den Federn der Pfauen, die ihre Räder schlugen.
   „Das stimmt, das waren Pfauenstimmen, die wir vorhin gehört haben.“, sagte Campanella zu dem Mädchen.
   „Ja, mindestens dreißig müssen es gewesen sein.“, antwortete sie. Plötzlich war Giovanni wieder unsäglich betrübt. Campanella, lass uns hier abspringen und etwas unternehmen! So hätte er die beiden am liebsten mit einer wilden Miene unterbrochen.

12. Die Delfinschule und der Vogelfluglotse


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