Antaiji

Kloster des Friedens

Die Nacht in der transgalaktischen Eisenbahn
14. Das Gebet des Skorpions


   „Da drüben, dass müssen die beiden Schreine der Zwillingssterne sein!“, rief plötzlich der kleine Tadashi mit dem Finger aus dem Fenster zeigend. Auf einem flachen Hügel auf der rechten Seite standen zwei kleine, kristallene Schreine neben einander.
   „Was meinst Du denn mit den ‚Schreinen der Zwillingssterne’?“
   „Ja, das müssen die beiden Kristallschreine sein, von denen uns unsere Mutter früher so oft erzählt hat!“
   „Erzähle uns doch, was es damit auf sich hat.“
   „Ja, ich will es auch noch einmal hören. War das nicht die Geschichte von den Zwillingen, die zum Spielen auf die Wiese gingen und einen Streit mit der Krähe anfingen?“
   „Nein, nein. Es war einmal am Ufer des Himmelsflusses, so hat es uns doch die Mutter erzählt...“
   „...und dann kam eine Sternschnuppe vorbei, die keuchte und quietschte und stöhnte, stimmt’s?“
   „Aber nein doch, Tada-chan, das ist eine ganz andere Geschichte.“
   „Sind das die Zwillinge, die dort Flöte spielen?“
   „Nein, die sind jetzt gerade am Meer!“
   „Stimmt doch gar nicht, Tadashi. Die sind längst wieder vom Meer zurück und sitzen jetzt in ihren Schreinen.“
   „Ich weiß, ich weiß, ich kann die Geschichte doch selbst erzählen!“
   Da leuchtete das andere Flussufer auf einmal rot auf. Weidenbäume zeichneten sich schwarz vor dem Licht ab, und auf den unsichtbaren Wellen des Himmelsflusses blinkten hier und dort Funken auf wie rote Nadeln. Auf den Feldern jenseits des Flusses brannte ein riesiges, rotes Feuer. Es schien, als wollte es mit seinen schwarzen Rauchwolken die Purpurhöhen des eisigen Himmels ankohlen. Transparent und rot wie ein Rubin, berauschend schön wie eine Lithiumflamme brannte dieses Feuer.
   „Was mag das nur für ein Feuer sein? Was leuchtet so rot, wenn man es verbrennt?“, fragte Giovanni.
   „Das muss das Feuer des Skorpions sein.“, antwortete Campanella mit dem Finger auf der Sternentafel.
   „Das Feuer des Skorpions? Davon habe ich schon gehört!“, sagte da Kaoru.
   „Was ist das denn für ein Feuer?“, wollte Giovanni wieder wissen.
   „Der Skorpion ist im Feuer umgekommen. Aber die Flamme ist bis heute nicht verloschen. Das habe ich von meinem Vater so oft gehört.“
   „Skorpione sind Insekten, stimmt’s?“
   „Ja, Skorpione sind Insekten. Aber ganz liebe Insekten.“
   „Skorpione sind doch keine lieben Insekten! Ich habe einmal einen im Museum gesehen, der war in Alkohol eingelegt. Hinten hatte der einen Stachel dran, und unser Lehrer hat uns erklärt, dass man stirbt, wenn man davon gestochen wird.“
   „Das ist schon richtig, aber es ist trotzdem ein liebes Insekt. Mein Vater hat es mir so erzählt: Vor langer Zeit lebte ein Skorpion in den Feldern von Valdora. Er ernährte sich von kleinen Insekten. Doch eines Tages erspähte ihn ein Wiesel und wollte ihn fressen. Der Skorpion lief und lief, doch das Wiesel war schneller. Gerade als es zupacken wollte, sah der Skorpion einen Brunnen vor sich und schwupp!, schon war er hineingestürzt. Doch jetzt kam er nicht mehr heraus und begann zu ertrinken! Da fing er an zu beten:
   ‚Ach, nicht einmal ich selber kann mich erinnern, wie vielen Wesen ich das Leben genommen habe! Doch als mich eben das Wiesel holen wollte, bin ich um mein eigenes Leben gerannt. Vergeblich, jetzt stecke ich hier und es gibt keine Rettung mehr. Warum konnte ich diesen Leib nicht einfach stillschweigend dem Wiesel opfern? Dann hätte auch das Wiesel wieder einen Tag zu leben gehabt. Lieber Gott, wirf einen Blick in mein Herz! Lass mein Leben nicht sinnlos zu Ende gehen, sondern erbarme Dich und verwende diesen Leib, auf dass er im nächsten Leben dem wahren Glück aller Wesen dienen möge.’
   Nachdem der Skorpion sein Gebet zu Ende gesprochen hatte, wurde er gewahr, dass sein Leib brannte wie ein herrliches rotes Feuer, das das Dunkel der Nacht erhellte. Mein Vater hat uns gesagt, dass dieses Feuer selbst heute noch brennt. Und seht, da drüben, das muss das Feuer sein!“
   „Ja, das ist wahr! Die Signaltriangel bilden die Form eines Skorpions!“, Giovanni konnte jetzt in den drei Triangeln jenseits des Feuers die Fangarme des Skorpions erkennen, während die fünf Triangel diesseits den Schwanz und Stachel formten. Und tatsächlich brannte das rote Feuer in der Mitte lautlos und strahlend schön.
   Als sie das Feuer langsam hinter sich ließen, begannen die wundersamsten Laute an ihre Ohren zu dringen: Musik, die wie der Duft wilder Blumen klang, pfeifende Lippen und auch das Lärmen von Menschenmassen waren zu hören. Es klang so, als näherten sie sich einer Stadt, in der ein Fest im vollen Gange ist.
   „Zentaurus, lass den Tau fallen!“, rief neben Giovanni der kleine Tadashi, der sich zu dem Fenster auf der anderen Seite gewandt hatte. Ein grüne Fichte oder Tanne war dort zu sehen, die wie zu Weihnachten mit unzählig vielen Glühbirnen geschmückt war. Es sah aus, als hätten sich dort abertausende von Glühwürmchen versammelt.
   „Das hatte ich ganz vergessen: Heute ist die Festnacht des Zentauren!“
   „Ja, und hier ist das Dorf des Zentauren.“, fügte Campanella wie aus der Pistole geschossen hinzu.

15. Das Kreuz des Südens und der Kohlensack


Switch to Japanese Switch to Spanish Switch to French Switch to English Switch to Czech
Switch to Chinese Switch to Italian Switch to Polish Switch to Dutch Switch to Russian