Antaiji

Kloster des Friedens

Die Nacht in der transgalaktischen Eisenbahn
16. Professor Vulcanello


   Stockdunkel war es überall. Da hörte Giovanni eine vertraute Stimme hinter sich.
   „Was weinst du so? Komm rüber zu mir!“
   Es war diese Stimme, die wie ein sanftes Cello brummte. Erschrocken wischte sich Gionvanni die Tränen aus dem Gesicht und blickte sich um. Auf Campanellas Platz saß jetzt ein dünner Mann mit bleichem Gesicht und einem großen, schwarzen Hut auf dem Kopf. Er lachte Giovanni freundlich zu. In den Händen hielt er ein großes Buch.
   „Ich bin Dr. Vulcanello. Du willst wissen, wohin Dein Freund verschwunden ist? Er ist heute Nacht in sehr, sehr weite Ferne aufgebrochen. So sehr Du ihn auch suchst, Du wirst Campanella nirgends finden.“
   „Aber warum nur? Wir hatten uns doch versprochen, immer beisammen zu bleiben, so weit uns die Reise auch führen sollte!“
   „Ja, jeder will das. Aber das geht nicht. Ihr könnt nicht gemeinsam fahren. Dafür will ich Dir etwas verraten: Alle sind Campanella! Jedes einzelne Wesen das Du triffst hat bereits unzählige Male mit Dir gemeinsam in der Eisenbahn gesessen und hat Äpfel mit Dir gegessen. Deshalb tust Du Recht daran, nach dem Glück aller Wesen Ausschau zu halten. Suche gemeinsam mit allen Wesen nach dem wahren Glück, denn nur auf diesem Weg wirst Du immer von Campanella begleitet werden.“
   „Das will ich tun! Aber wie genau kann ich das anstellen?“
   „Ich bin selbst noch auf dem Weg. Deshalb vergiss auch Du nie die Fahrkarte, die Du bei Dir trägst. Und vergiss auch nicht, zu lernen. Du kennst doch Chemie? Du weißt, das Wasser aus Wasserstoff und Sauerstoff zusammengesetzt ist. Daran zweifelt heute kein Mensch mehr. Denn man kann es ja durch Experimente überprüfen. Doch in alten Tagen gab es Leute, die behaupteten, dass Wasser aus Quecksilber und Salz besteht. Andere sagten, es sei aus Quecksilber und Schwefel. Die gerieten sich darüber richtig in die Haare. Genauso behaupten die Leute, dass ihr und nur ihr Gott der richtige Gott sei. Doch selbst wenn wir an verschiedene Götter glauben, kommt es doch vor, dass wir gemeinsam Tränen vergießen, oder nicht? Oft sinnen wir darüber nach, was gut und was schlecht ist. Doch wir finden keine endgültige Lösung, nicht wahr? Wenn Du Dich wirklich in Dein Studium vertiefst, dann entdeckst Du vielleicht irgendwann eine Experimentiermethode, mit der man richtige Gedanken von falschen Gedanken unterscheiden kann. Wenn Dir das gelänge, dann gäbe es keinen Unterschied mehr zwischen der Naturwissenschaft und der Religion. Hier, wirf einen Blick in dieses Buch. Das ist ein Lexikon der historischen Geografie. Auf dieser Seite siehst Du eine historische Karte aus dem Jahr 2200 vor unserer Zeitrechnung. Verstehst Du? Das ist nicht die Welt, so wie sie 2200 Jahre vor unserer Zeitrechnung ausgesehen hat. Das ist die Welt, so wie sie sich die Menschen 2200 Jahre vor unserer Zeitrechnung vorgestellt haben. Diese eine Karte bedeutete damals soviel wie dieses ganze Buch der historischen Geografie. 2200 Jahre vor unserer Zeitrechnung stellte diese Karte die gesamte Wahrheit dar. Wenn die Leute nach Beweisen dafür suchten, fanden sie auch welche. Doch irgendwann fragte man sich, ob es wirklich so ist, und sieh, das ist die nächste Seite: Eine Karte aus dem Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung. Die sieht schon ganz anders aus, stimmt’s? Aber jetzt mach kein komisches Gesicht! Mit uns ist es doch genauso so: Was wir für unseren Körper halten, oder unsere Gedanken, die Milchstraße, die Eisenbahn oder die Weltgeschichte, das ist doch nur unsere Vorstellung in diesem Augenblick. Pass auf, lass uns still den Geist konzentrieren. Bist Du bereit?“
   Der Doktor hob einen Finger und senkte ihn dann in Ruhe. Da erkannte Giovanni plötzlich, wie er selbst und alle seine Gedanken, die Eisenbahn, der Gelehrte vor ihm und die gesamte Milchstraße für einen Augenblick aufleuchteten, um im nächsten Augenblick zu verlöschen. Wieder blinkte alles auf, und wieder verschwand alles. In dem Moment, in dem es licht wurde, öffnete sich die Welt mit ihrer ganzen Weltgeschichte endlos weit vor ihm. Im nächsten Moment war sie restlos verschwunden, er sah nur noch vollkommene Leere. Das Aufblinken wurde schneller und schneller, und bald sah die Welt wieder so aus, wie er sie kannte.
   „Alles klar? Dein Experiment muss die Gesamtheit all dieser abgetrennten Vorstellungsbilder erfassen, vom Anfang bis zum Ende. Das ist nicht so einfach. Für den Anfang reicht es natürlich, wenn Du Dich nur diesen Augenblick konzentrierst. Siehst Du den Plesius dort? Du musst die Fesseln des Plesius lösen!“
   Jenseits des rabenschwarzen Horizonts stiegen nun taghelle, blau-weiße Rauchzeichen empor, die das Innere des Wagens erleucheten. Der Rauch stieg immer weiter in die Höhe und sandte sein Licht vom Himmel herab.
   „Das sind die Magellanschen Wolken! Jetzt will ich mich aufmachen, nach dem größten und höchsten Glück für mich selbst, für meine Mutter, für Campanella und für alle Wesen zusammen zu suchen!“
   Giovanni stand da und biss sich auf die Lippen, während er die Magellanschen Wolken betrachtete. Für den einen Menschen, dem das größte Glück gehört!
   Da hörte er wieder die Cello-Stimme: „Behalte Deine Fahrkarte fest im Griff! Von nun an trägt Dich keine geträumte Eisenbahn weiter. Geradeaus und mit festem Schritt musst Du durch das Feuer und die hohen Wellen der wirklichen Welt gehen. Niemals sollst Du Deine Fahrkarte verlieren, denn es gibt nur eine davon in der ganzen Milchstraße.“
   Die Milchstraße war auf einmal in weite, weite Ferne gerückt. Der Wind blies scharf, und Giovanni sah sich kerzengerade auf dem grasbewachsenen Hügel stehen. Aus der Ferne hörte er die Schritte Dr. Vulcanellos leise näher kommen.
   „Danke, Du hast mir eben bei einem Experiment geholfen. Ich habe mich vergewissert, ob es an einem so ruhigen Ort wie hier möglich ist, Gedanken aus der Ferne zu übertragen. Alles, was Du eben gesagt hast, habe ich in mein Notizbuch eingetragen. Doch jetzt wird es Zeit für Dich, nach Hause zu gehen und Dich Schlafen zu legen. Geh immer geradeaus, so wie Du es vorhin in Deinem Traum beschlossen hast. Und wann immer Du Zweifel hast, stehe ich Dir zur Verfügung.“
   „Ja, ich werde immer geradeaus gehen. Ich werde die Suche nach wahrem Glück nie aufgeben.“, sagte Giovanni mit kräftiger Stimme.
   „Hier ist Deine Fahrkarte. Auf Wiedersehen!“
   Dr. Vulcanello steckte das klein gefaltete, grüne Papier in Giovannis Tasche. Und schon war seine Gestalt jenseits der Wetterradsäule verschwunden.
   Giovanni lief stracks den Hügel hinab. Doch dann bemerkte er, dass sich seine Tasche sehr schwer anfühlte. Irgendetwas klimperte darin. Er blieb mitten im Wald stehen, und als er die Hand in die Tasche steckte, fand er, eingefaltet in die seltsame Himmelsfahrkarte aus dem Traum, zwei große Goldstücke.
   „Vielen Dank, Herr Doktor. Mutter, bald bin ich mit der Milch zurück!“, rief Giovanni und rannte davon. Die unterschiedlichsten Gefühle mischten sich in seiner Brust, und er wusst nicht, ob er sich einsam oder neu und frisch fühlte. Die Leier wanderte langsam nach Westen, wie im Traum begann sie wieder die Beine zu strecken.

17. Campanellas Vater


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