Antaiji

Kloster des Friedens

Die Nacht in der transgalaktischen Eisenbahn
9. Giovannis Fahrkarte


   „Jetzt verlassen wir langsam den Schwanenbezirk. Sehen Sie dort: Das ist das berühmte Albireo-Messlabor.“
   Aus dem Feuerwerksfunken sprühenden Himmelsfluss ragten vier große, schwarze Gebäude. über einem der Flachdächer hingen zwei atemberaubend schöne Kugeln, die eine blau wie ein Saphir, die andere gelb wie ein Topas. Sie drehten sich umeinander. Während die gelbe nach hinten wanderte, schob sich die kleinere, blaue Kugel langsam davor. Als ihre Ränder begannen, sich zu überschneiden, leuchtete die Schnittfläche wie eine grüne Konvexlinse zwischen den beiden. Diese Linse wurde dicker und dicker, und als sich der Saphir ganz vor den Topas geschoben hatte, war nur noch eine einzige Kugel zu sehen, innen grün, außen von einer leuchtend gelben Halo umgeben. Doch auch das währte nur einen Augenblick, und schon bewegte sich der Saphir wieder von dem Topas davon, wobei dieses Mal auf der anderen Seite der Eindruck einer langsam abnehmenden Linse entstand. Irgendwann trennten sich die beiden Kugeln dann, und jetzt war es der gelbe Topas, der sich langsam vor den Saphir schob. Das dunkle Messlabor ruhte indes inmitten des unsichtbaren, lautlosen Wassers der Milchstraße, als schliefe es fest.
   „Da wird die Wassergeschwindigkeit gemessen. Das Wasser...“
   Der Vogelfänger hob gerade zu einer Erklärung an, da wurde er von dem Schaffner mit der roten Mütze unterbrochen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war und jetzt stramm neben den dreien stand: „Die Fahrscheine, bitte!“
   Der Vogelfänger zog schweigend einen Zettel aus der Tasche, auf den der Schaffner nur einen kurzen Blick warf, um dann die Hand in Giovannis und Campanellas Richtung zu strecken. Mit den Fingern bedeutete er ihnen, dass er auch auf ihre Fahrscheine wartete.
   „Also...“, während Giovanni noch herumdruckste, holte Campanella eine kleine mausgraue Fahrkarte hervor, so als sei gar nichts dabei. Da verlor Giovanni ganz die Fassung und in der Hoffnung, dass sich da ja ein Fahrschein versteckt haben könnte, streckte er die Hand in die Jackentasche. Und tatsächlich fand er dort einen großen gefalteten Zettel. Woher kommt der bloß?, dachte er als er ihn hastig herauszog. Es handelte sich um ein doppelt gefaltetes, grünes Stück Papier von der Größe einer Postkarte. Der Schaffner hält die Hand noch immer ausgestreckt. Was bleibt mir da übrig, als es mit diesem Zettel zu probieren? Der Schaffner nahm Haltung an öffnete das Papier vorsichtig, das ihm Giovanni auf gut Glück überreicht hatte. Während er es las fuhren seine Finger nervös über die Knöpfe der Uniform, und der Leuchtturmwächter versuchte von unten einen Blick auf den Zettel zu werfen. Das muss wirklich eine Art Ausweis sein, dachte Giovanni, dem die Brust heiß wurde.
   „Haben sie das aus dem dreidimensionalen Raum mitgebracht?“, fragte der Schaffner.
   „Ich verstehe nur Bahnhof“, kicherte Giovanni den Schaffner an, denn jetzt war er sich sicher, dass alles in Ordnung sein musste.
    „Vielen Dank. Wir erreichen das Kreuz des Südens in der nächsten, dritten Stunde“, sagte der Schaffner und ging den Gang hinunter, nachdem er Giovanni den Zettel zurück gegeben hatte. Campanella beugte sich gleich darüber, so als könnte er gar nicht warten herauszufinden, was es damit auf sich haben könnte. Auch Giovanni hatte es eilig, ihn in Augenschein zu nehmen. Das Papier war von einem schwarzen Rankenmuster bedeckt, auf das lediglich zehn Lettern gedruckt waren. Als sie es schweigend betrachteten, kam es ihnen vor, als würden sie davon aufgesogen. Da warf auch der Vogelfänger einen Blick von der Seite auf das Papier. Überrascht sagte er:
   „Das ist ja etwas ganz Außergewöhnliches! Mit dem Fahrschein können Sie wirklich ins Himmelreich reisen. Und nicht nur ins Himmelreich. Das ist ein Passierschein, mit dem Sie überall hinkommen. Mit der Karte können Sie in dieser unvollkommenen, transgalaktischen Eisenbahn der vierten Illusion so weit fahren, wie Sie nur möchten. Respekt, Respekt!“
   „Ich verstehe wirklich gar nichts mehr“, rot werdend steckte Giovanni das gefaltete Papier zurück in seine Tasche. Und da sie nichts mehr zu sagen wussten, blickten er und Campanella wieder verschämt aus dem Fenster, ohne dass ihnen die bewundernden Blicke, die ihnen von Zeit zu Zeit der Vogelfänger von der Seite aus zu warf, entgangen wären.
   „In Kürze werden wir am Bahnhof des Adlers sein“, sagte Campanella, die Reihe der drei bläulichen Triangel am anderen Ufer mit seiner Tafel vergleichend.
   Giovanni tat der Vogelfänger neben ihm plötzlich furchtbar leid. Er dachte darüber nach, wie dieser Mann sich gefreut hatte, nachdem er die Reiher gefangen hatte. Und wie vorsichtig er sie in seinem weißen Leinentuch verpackt hat! Wie überrascht war er dann, als er meine Fahrkarte sah, er hat mich sogar noch dafür gelobt. Giovanni wollte für diesen Mann sein letztes Hemd ausziehen. Sein Essen und alles, was er bei sich trug, hätte er ihm geschenkt. Wenn ich ihm damit helfen könnte, das wahre Glück zu finden, dann würde ich sogar hundert Jahre am leuchtenden Ufer des Himmelsflusses stehen und für ihn Vögel fangen! Giovanni glaubte, nicht länger schweigen zu können:
   Was wünschen Sie sich eigentlich von ganzem Herzen?, wollte er gerade fragen. Doch da erschien es ihm wiederum unpassend, den Mann aus dem heiteren Himmel heraus mit einer solchen Frage zu überfallen. Als er sich unschlüssig umwandte, saß der Vogelfänger nicht mehr neben ihm. Und auch die beiden weißen Bündel waren aus dem Gepäcknetz verschwunden. Schnell blickte er aus dem Fenster, denn er dachte, dass der Mann vielleicht wieder mit gespreizten Beinen in den Himmel aufsah und auf Reiher wartete. Doch da war nur der wunderschöne Sand und die Ährenwellen zu sehen, weit und breit keine Spur von dem kräftigen Rücken und der Zipfelmütze des Vogelfängers.
   „Wohin der wohl verschwunden ist?“, fragte Campanella gedankenverloren.
   „Ja, wohin nur? Ob wir ihn jemals wieder treffen? Warum habe ich mich bloß nicht etwas mehr mit ihm unterhalten?“
   „Das frage ich mich auch.“
   „Als er noch hier saß, empfand ich ihn als einen Störenfried. Dafür mache ich mir jetzt große Vorwürfe!“
   Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich so seltsam fühle. Und so geredet wie eben habe ich auch noch nie, dachte Giovanni bei sich.

10. Die Schiffbrüchigen


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