Antaiji

Kloster des Friedens

Die Nacht in der transgalaktischen Eisenbahn
4. Die Festnacht des Zentauren



    Die Lippen gespitzt, als wollte er ein trauriges Lied pfeifen, ging Giovanni den von dunklen Muschelzypressen bewachsenen Hügel in die Stadt hinunter. Am Fuß des Hügels stand eine einzelne, große Straßenlaterne, die ein bläulich-weißes Licht ausstrahlte. Je näher Giovanni an die Laterne heran kam, desto klarer wurden die Umrisse des schwarzen Schattens, der sich bis dahin wie ein langer, blasser Geist hinter ihm hergeschleppt hatte. Jetzt begann er seine immer dunkleren Arme zu schwenken und die Beine zu heben, als wollte er Giovanni überholen.
    Ich bin eine kräftige Dampflokomotive. Hier geht es bergab, darum bin ich so schnell. Die Laterne fliegt an mir vorbei, und mein Schatten ist ein Kompass. Er hat mich überholt, jetzt folge ich ihm nach!
    Gerade als Giovanni in Gedanken an der Laterne vorbeizog, trat Sanelli in einem neuen Spitzkragenhemd aus der dunklen Gasse auf der anderen Seite. Leicht wie ein Nachtfalter zog die Gestalt an ihm vorbei.
    Sanelli, gehst Du auch die Gurken in den Fluss aussetzen?, wollte Giovanni gerade fragen, da rief ihm Sanelli bereits von hinten nach:
    „Giovanni, wo ist denn der Mantel aus Seeotterpelz, den dir dein Vater versprochen hat?“
    Giovannis Brust fühlte sich plötzlich eiskalt an, und ein schrilles Läuten klang ihm in den Ohren.
    „Was soll das, Sanelli?“, rief er, doch Sanelli war bereits in einem hinter Scheinzypressen versteckten Haus verschwunden.
    Warum muss mir Sanelli immer so zusetzen? Ich habe doch gar nichts getan. Eine feige Ratte, die nichts dafür kann, dass sie so dumm ist.
    Allein mit seinen Gedanken zog Giovanni durch die Straßen, die mit Zweigen und Lichtern hübsch geschmückt waren. Das Schaufenster des Uhrengeschäftes war hell mit Neonlicht erleuchtet. Darin saß eine Eule aus Stein, deren rote Augen sich jede Sekunde kurz drehten. Auf einer azurblauen, rotierenden Glascheibe lagen allerlei Edelsteine, die wie Sterne funkelten. Wenn sie sich langsam drehten, kam auf der anderen Seite der Scheibe ein bronzener Zenatur zum Vorschein. In der Mitte konnte man eine runde, schwarze Sternentafel sehen, die mit grünen Spargelzweigen verziert war.
    Giovanni vergaß die Welt um sich herum, als er in die Tafel versank. Sie war viel, viel kleiner als die Karte, die er am Nachmittag in der Schule gesehen hatte. Man brauchte nur den Scheibenrand auf das richtige Datum und die Stunde einzustellen, und schon erschien in dem ovalen Ausschnitt in der Tafelmitte der Sternenhimmel, der zu dem Zeitpunkt beobachtet werden kann. Auch hier war die Milchstraße als nebliger Streifen zu erkennen, der auf der Tafel von oben nach unten verlief. Ganz unten schien es so, als hätte eine kleine Explosion Wasserdampf zum Aufsteigen gebracht. Hinter der Tafel stand ein Fernrohr auf einem Tripod, das gelb leuchtete. Und ganz hinten an der Wand hing eine große Karte, auf der die Sternbilder des Himmels durch wundersame Tierfiguren, Schlangen, Fische oder Krüge gekennzeichnet waren.
    Ob der Himmel wirklich mit solchen Krebsen und Kriegern bevölkert ist? Ach, ich wünschte, ich könnte tiefer und tiefer in diese Welt eintauchen!
    Doch da fiel Giovanni wieder die Milch ein, die er doch für seine Mutter kaufen wollte, und endlich löste er sich von dem Fenster. Obwohl ihm seine Jacke an den Schultern etwas kniff, warf er sich dennoch in die Brust und schwang beide Arme weit, als er durch die Straßen zog. Fast wie Wasser schien die frische, klare Luft durch die Straßen und Läden zu strömen. Die Straßenlaternen waren mit grünen Tannen- und Eichenzweigen geschmückt, und in den Zweigen der sechs Platanen vor dem Elektrizitätswerk leuchteten viele Glühbirnen, so dass es wirklich fast so aussah, als sei die Welt über Giovannis Kopf von Meerjungfrauen bevölkert.
    Die Kinder der Stadt trugen alle frisch gebügelte Kimonos. Manche pfiffen das Lied vom Sternenkarussell, andere rannten und riefen: „Zentaurus, lass den Tau fallen!“ Andere brannten fröhlich blaue Magnesium-Wunderkerzen ab. Nur Giovanni hielt auf einmal wieder den Kopf tief gesenkt und schien in sich an ganz andere Gedanken hinzugeben, als er in die Richtung des Milchhändlers eilte. Schließlich kam er am Rand der Stadt an, wo sich eine Allee von Pappeln in den Sternenhimmel reckte. Dort trat er durch das schwarze Tor der Molkerei, und nahm vor der halbdunklen Küche, aus der ihm der Geruch von Kühen entgegenschlug, die Mütze ab.
    „Guten Abend!“, sagte Giovanni, doch niemand im Haus antwortete.
    „Guten Abend! Ist jemand zuhause?“, rief er nochmals mit erhobener Stimme. Nach einer Weile kam eine alte Frau hervor, der es nicht allzu gut zu gehen schien.
    „Was willst du?“, murmelte sie. Giovanni antwortete mit lauter Stimme:
    „Es tut mir leid, aber heute ist die Milch bei uns nicht geliefert worden. Deshalb bin ich sie abholen gekommen.“
    „Im Moment ist keiner da und ich weiß auch nicht weiter. Komm doch morgen wieder.“, meinte die Alte, während sie auf Giovanni herabblickend ihre roten Augen rieb.
    „Aber meine Mutter ist doch krank. Sie braucht die Milch noch heute abend.“
    Die Frau wendete sich bereits ab.
    „Dann versuch es noch einmal etwas später.“
    „Danke“, sagte Giovanni und verließ die Küche mit einer Verbeugung.
    Gerade als er um die Kreuzung biegen wollte, erkannte er in der Richtung der Brücke vor dem Gemischtwarenhändler mehrere dunkle Schatten, die zwischen schwach leuchtenden weißen Hemden hin und hertanzten, auf sich zukommen. Sechs, sieben Schüler pfiffen und lachten, Laternen aus Schlangenkürbissen in der Hand. Giovanni wusste sofort, wem die Stimmen gehörten: Es waren seine Klassenkameraden. Zuerst wollte er erschrocken umkehren, doch dann nahm er seinen Mut zusammen und ging ihnen entgegen.
    Geht Ihr zum Flusss?, wollte er sie gerade fragen, doch etwas schien ihm in der Kehle zu sitzen. Da rief Sanelli schon wieder:
    „Giovanni, bald kommt dein Seeotterpelz!“
    „Giovanni, bald kommt dein Seeotterpelz!“, brüllten bald auch die anderen. Knallrot und außer sich lief Giovanni an ihnen vorbei, da sah er Campanella unter den Gestalten. Campanella lächlete ihm stumm und verlegen zu, so als täte ihm das ganze Leid. Bittet er mich, ihm nicht böse zu sein?
    Giovanni wich seinen Blicken aus. Als er Campanellas hohe Gestalt hinter sich gelassen hatte, hörte er die Gruppe wieder pfeifen. Als er um die nächste Ecke bog, blickte er noch einmal zurück. Seine Blicke trafen sich mit denen Sanellis. Auch Campanella pfiff nun laut, als er mit den anderen über die kaum noch zu sehende Brücke verschwand. Plötzlich von der Einsamkeit überkommen fing Giovanni an zu rennen. Kleine Kinder, die auf einem Bein hüpften und mit den Händen über den Ohren lauthals schrien, glaubten, dass er nur zum Spaß renne, und riefen ihm zu. Doch Giovanni war im Nu in Richtung des schwarzen Hügels verschwunden.

5. Die Wetterradsäule


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