Antaiji

Kloster des Friedens

Die Nacht in der transgalaktischen Eisenbahn
7. Das Kreuz des Nordens und die Pliozänküste


   „Ob, ob mir meine Mutter je verzeihen wird?“, brachte Campanella sich plötzlich entschlossen räuspernd hervor.
   Giovanni war schweigend in Gedanken versunken. Meine Mutter? Die wartet jetzt und denkt an mich, irgendwo hinter dieser winzigen orangen Signalpyramide, die schon so weit weg ist.
   Doch Campanella kämpfte mit den Tränen.
   „Wenn ich meine Mutter wirklich glücklich machen könnte, dann würde ich dafür alles tun. Ich frage mich nur, was das höchste Glück für meine Mutter wäre.“
   „Deine Mutter? Aber Deiner Mutter fehlt doch gar nichts?“, rief Giovanni erschrocken aus.
   Es schien, als hätte Campanella in seinem Herzen einen festen Entschluss gefasst.
   „Ich weiß nicht, aber ich glaube, dass der am glücklichsten ist, der genau das tut, was gut und richtig ist. Bestimmt wird mir meine Mutter verzeihen!“
   Da wurde es im Abteil auf einmal hell. Draußen floss das Wasser lautlos und vollkommen transparent über den Grund der Milchstraße, der leuchtete als hätten sich dort alle Diamanten der Welt und alle Tautropfen der Nacht gemeinsam versammelt. Inmitten des Wassers tauchte eine einzige Insel auf, die von einer blau-weißen Halo umschienen war. So als wollte es die Reisenden aus ihrem Dämmerschlaf wecken, stand auf dem flachen Hügel der Insel ein weiß leuchtendes Kreuz, hinter dem ein goldener Lichtring hing. Er leuchte so kalt und klar, als sei er vor ewigen Zeiten auf einer eisigen Ambosswolke am Nordpol geschmiedet worden.
   „Halleluja, Halleluja!“, erhallte es vor ihnen und hinter ihnen. Als sie sich umblickten, sahen sie, dass sich die Reisenden im Abteil erhoben hatten, die Falten ihrer Kimonogewänder sauber geglättet. Manche hielten eine schwarze Bibel vor der Brust, andere hatten Rosenkränze mit Kristallperlen. Alle hatten sie die andächtig zum Gebet gefalteten Hände auf das Kreuz gerichtet. Ehe sie sich versahen, hatten sich auch die beiden aufgerichtet. Campanellas Wangen glühten rot wie ein Apfel, der nicht reifer sein könnte.
   Doch bald ließen sie die Insel mit dem Kreuz hinter sich. Das andere Ufer leuchtete durch den blauen Dunst. Noch immer wogte das Elefantengras als pustete jemand seinen silbernen Atem darüber, und die Vielzahl der Enzianblüten flackerte wie ein sanftes Irrlicht zwischen den Gräsern auf und ab.
   Für einen Augenblick versperrte ihnen ein Hain aus Elefantengras den Blick auf den Fluss, und nur zwei kurze Male konnten sie die Schwaneninsel noch hinter sich ausmachen, wie ein ganz kleines, weit entferntes Gemälde. Dann wurde sie ganz vom Rauschen der Gräser verschluckt.
   Hinter Giovanni stand eine groß gewachsene, katholische Nonne in einem schwarzen Übergewand. Wann sie wohl zugestiegen ist? Sie hielt ihre kreisrunden, grünen Augen gerade nach unten gesenkt und schien voller Ehrfurcht einer entfernten Stimme zu lauschen.
   Die Reisenden kehrten still auf ihre Plätze zurück. Auch Giovanni und Campanella sprachen jetzt leiser, in einer anderen Sprache, als sie ein neues, der Melancholie ähnliches Gefühl in ihrer Brust miteinander teilten.
   „Bald werden wir am Bahnhof des Schwans sein.“
   „Ja, um Punkt 11 sollen wir ankommen.“
   Kaum hatten sie so gesprochen, da zog bereits das grüne Licht eines bleichen Signalmasts am Fenster vorbei, gefolgt vom schwefeligen Flackern einer Leuchte, die zu einer Weiche gehörte. Der Zug verlor allmählich an Geschwindigkeit, und schon war die Lichterreihe des Bahnsteigs zu erkennen, gleichmäßig und schön. Die Lampen wurden größer und größer, die Abstände dazwischen weiter, bis der Wagen mit Giovanni und Campanella direkt vor der großen Uhr des Schwanenbahnhofs zum Halt kam.
   Die blauen Stahlzeiger auf dem herbstlich klaren Ziffernblatt zeigten exakt 11 Uhr an. Auf einmal stiegen alle aus, und sie waren allein im Zugabteil. „20 Minuten Aufenthalt“ stand unter der Uhr.
   „Wollen wir auch aussteigen?“, fragte Giovanni.
   „Na klar.“
   Gemeinsam sprangen sie von ihren Sitzen auf, stürzten durch die Tür und liefen auf den Bahnhofsausgang zu. Doch an der Schranke, an der der Bahnhofsvorsteher die Fahrscheine überprüft, hing nur eine helle violette Lampe. Weit und breit waren weder der Vorsteher noch ein Kofferträger zu sehen.
   Die beiden traten hinaus auf den kleinen Bahnhofsvorplatz. Er war umgeben von Ginkgobäumen, die aus feinen Kristallen zusammengesetzt zu sein schienen. Von dort führte eine breite Straße direkt in das blaue Licht der Milchstraße hinein.
   Von den Fahrgästen, die vor ihnen ausgestiegen waren, war keine Seele mehr zu sehen. Schulter an Schulter gingen die beiden die weiße Straße entlang. Ihre Schatten fielen in alle Richtungen, so wie die von zwei Säulen, die ein einem von alle Seiten beleuchteten Raum stehen. Oder so wie die Speichen von zwei Rädern, die sich in alle Richtungen auffächern. Bald hatten sie das Ufer des Flusses erreicht, das sie vom Zugfenster aus hatten sehen können.
   Campanella griff nach dem herrlich glitzernden Sand. Wie in einen Traum versunken bewegte er die Finger durch die leise knirschenden Körner in seiner Hand.
   „Das sind alles Kristalle. Und in jedem Kristall brennt ein kleines Feuer.“
   „Genau“, antwortete Giovanni, doch in Gedanken fragte er sich, wo er das bereits gehört hatte. Tatsächlich waren alle Steine am Flussufer durchsichtige Kristalle oder Topase. Darunter waren auch Steine mit einer gerunzelten Oberfläche und Korunde, deren Kanten bläulich-weiß schimmerten. Giovanni lief ans Ufer und tauchte die Hände ins Wasser. Das seltsame Wasser der Milchstraße war wirklich transparenter als Wasserstoff. Dass es dennoch in Bewegung war, konnten sie an dem quecksilbernen Glänzen ihrer Hände im Wasser erkennen. Die Wellen, die sich um ihre Handgelenke im Wasser formten, strahlten ein wundervoll flackerndes, phosphoreszierendes Licht aus.
   Flussaufwärts war unter einer dicht mit Elefantengras bewachsenen Klippe ein kalkfarbenes Felsplateau zu sehen. Groß wie ein Sportplatz dehnte es sich entlang des Flusses aus. Eine handvoll Gestalten schien damit beschäftigt zu sein, irgendetwas aus- oder einzugraben. Ihre Körper bewegten sich auf und ab, und von Zeit zu Zeit war das Funkeln von Werkzeugen auszumachen.
   „Komm, lass uns da hin!“, riefen die beiden wie aus einem Mund, und schon schossen sie davon. Vor dem Plateau stand ein aus Keramik gefertigtes Schild, auf dessen spiegelglatter Oberfläche „Pliozänküste“ geschrieben stand. Am anderen Flussufer standen hier und dort schöne Holzbänke hinter einem feinen Metallgeländer.
   „Guck was hier liegt!“, staunte Campanella, der stehen geblieben war, um etwas längliches, schwarzes vom Boden aufzuheben, das eine walnussähnliche Spitze hatte.
   „Walnüsse! Und sieh mal, wie viele! Der Fluss muss sie angeschwemmt haben. Sie stecken überall im Felsen.“
   „Wie groß die sind! Mindestens doppelt so groß wie gewöhnliche Walnüsse. Und kein bisschen verdorben.“
   „Aber lass uns keine Zeit verlieren. Wir wollen doch sehen, was die da drüben ausgraben!“
   Die spitzen, schwarzen Walnüsse in den Händen gingen die beiden weiter. Links von ihnen spielten die Wellen am anderen Ufer des Flusses wie ein sanftes Wetterleuchten, rechts von ihnen wogten sich die Silberähren wie Muschelschalen auf der Klippe. Als sie näher kamen, sahen sie einen großen Mann, der eine entsetzlich dicke Brille auf der Nase und hohe Stiefel an den Beinen trug. Er schien ein Gelehrter zu sein schien. Der Mann war dabei, sich in einem Block emsig Notizen zu machen, während er gleichzeitig seine drei Gehilfen, die mit Spitzhacken und Spaten am Werk waren, mit schlafwandlerischer Sicherheit dirigierte:
   „Passen Sie auf, dass Sie den Vorsprung dort nicht beschädigen. Nehmen Sie doch den Spaten, nicht die Hacke! Und graben Sie bitte mit etwas mehr Abstand. Nein, nein, nein! Warum können Sie nicht acht geben?“
   Jetzt erkannten sie endlich, was die Männer aus dem weichen Kalkstein ausgruben: Ein sehr, sehr großes bleiches Tierskelett ragte zur Hälfte aus dem Fels heraus. Es schien, als wäre es auf die Seite gedrückt worden. Da waren außerdem ein Dutzend rechteckiger Brocken sauber aufgereiht und nummeriert. Auf ihnen waren Fußabdrücke mit zwei Klauen zu erkennen.
   „Was wollt Ihr denn hier? Observieren?“, fragte der Gelehrte mit einem Blick durch die funkelnden Brillengläser. „Wisst Ihr, wie alt diese Walnüsse sind? Ob Ihr es glaubt oder nicht, die sind eine Million und 200tausend Jahre alt. Und damit sind sie sogar noch relativ neu. Vor einer Million und 200tausend Jahren, also gegen Ende des Tertiärs, war hier die Meeresküste, deshalb könnt Ihr hier auch Muscheln finden. Wo heute der Fluss verläuft haben die Gezeiten früher Salzwasser angeschwemmt. Aber Ihr interessiert Euch wohl mehr für dieses Skelett. Dieses Tier hier, das wir auf den Namen ‚Boss’ getauft haben… Hoppla, wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass Sie dort nicht mit der Spitzhacke graben sollen! Schaben Sie mit einem Löffel, und zwar vorsichtig!“, unterbrach sich der gelehrte Mann plötzlich selbst, um gleich wieder ruhig fortzufahren. „Also, dieser ‚Boss’ hier ist der Vorfahre unserer heutigen Kuh. Früher gab es sehr viele von seiner Art.“
   „Wollen Sie ihn in einem Museum ausstellen?“
   „Nein, ich brauche ihn als ein wissenschaftliches Beweisstück. Denn obwohl alle Evidenz dafür zu sprechen scheint, dass diese wunderbare, tiefe Erdschicht eine Million und 200tausend Jahre alt ist, bleibt doch die Frage, wie es von einem ganz anderen Standpunkt als dem unseren aussieht. Würden andere hier dieselbe Erdschicht sehen? Oder könnte es sein, dass ein anderes Wesen hier Wind sieht, oder Wasser, oder den weit offenen Himmel? Versteht Ihr? Andererseits… Schaufeln Sie doch nicht blindlings in der Gegend herum! Genau dort müssen sich doch die Rippenknochen befinden!“
   Hastig lief der Gelehrte an die Stelle.
   „Es wird Zeit uns auf den Rückweg zu machen!“, sagte Campanella, der die Tafel mit seiner Uhr verglich.
   „Vielen Dank für alles“, verabschiedeten sich die beiden mit einer höflichen Verbeugung bei dem Gelehrten.
   „Nichts zu danken! Alles Gute.“
   Kaum hatte der Gelehrte gesprochen, da war er auch schon wieder voll damit beschäftigt, hin- und herzuspazieren und eifrig Anweisung auszuteilen.
   Giovanni und Campanella liefen indes in Windeseile über das Felsplateau, um den Zug ja nicht zu verpassen. Und tatsächlich rannten sie wie der Wind: Weder kamen sie außer Atem, noch wurde es ihnen heiß um die Knie.
   Wenn wir so schnell sind, dann gibt es keinen Ort auf der Welt, den wir nicht erreichen können, dachte Giovanni. Wie im Flug kehrten sie auf dem Weg entlang des Flusses zurück, dann sahen sie das Licht am Bahnhofseingang größer und größer werden, und schon saßen die beiden wieder auf ihren Plätzen im Wagen und guckten aus dem Fenster zurück in die Richtung, aus der sie eben gekommen waren.

8. Der Vogelfänger


Switch to Japanese Switch to Spanish Switch to French Switch to English Switch to Czech
Switch to Chinese Switch to Italian Switch to Polish Switch to Dutch Switch to Russian