Antaiji

Kloster des Friedens

Transgalaktischer Nachtzug
8. Der Vogelfänger



    „Würden es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich hier hinsetze?“, ertönte eine raue, aber freundlich klingende Männerstimme hinter Giovanni und Campanella. Sie gehörte zu einem buckeligen Rotbart in einem braunen, leicht zerschlissenen Mantel, der zwei weiße Bündel auf den Schultern trug.
    „Nein, keinesfalls. Bitte nehmen Sie Platz!“, antwortete Giovanni, die Schultern leicht zusammen ziehend. Der Mann verzog seinen Bart zu einem leichten Lächeln, während er sein Gepäck behutsam im Gepäcknetz verstaute. Irgendwie fühlte sich Giovanni wieder furchtbar traurig und einsam. Als er schweigend auf die Bahnhofsuhr vor ihm blickte, war weit vor ihnen ein gläserner Pfiff zu hören. Der Zug setzte sich ganz langsam in Bewegung. Campanella ließ seinen Blick kreuz und quer über die Decke des Abteils schweifen. Auf einem der Lichter saß ein schwarzer Hirschkäfer, der einen riesigen Schatten auf die Decke warf. Der Mann mit dem roten Bart betrachtete Giovanni und Campanella schmunzelnd, so als würden die beiden alte Erinnerungen in ihm wachrufen. Der Zug fuhr jetzt schneller und schneller, und abwechselnd leuchteten das Elefantengras und der Fluss vor dem Fenster.
    Vorsichtig die Worte wählend wandte sich der Rotbart an die beiden: „Dürfte ich wohl fragen, wie weit Sie reisen?“
    „Wir fahren so weit die Reise geht“, antwortete Giovanni, obwohl er sich selbst nicht so sicher war.
    „Das ist gut. Denn dieser Zug fährt endlos weiter.“
    „Und wohin fahren Sie eigentlich, wenn ich einmal fragen darf?“, fragte da plötzlich Campanella. Giovanni musste lachen, denn es klang fast so, als wollte Campanella einen Streit vom Zaun brechen. Und auch der Mann auf dem Platz gegenüber, der einen spitzen Hut trug und einen großen Schlüssel am Gürtel hängen hatte, warf ihm einen lachenden Blick zu. Da brach selbst Campanella, knallrot im Gesicht, in Gelächter aus. Dem Rotbart schien das nichts weiter auszumachen. Mit zuckenden Wangen, doch ohne sich zu ärgern, antwortete er: „Ich steige bald aus. Ich bin ja der Vogelfänger.“
    „Was für Vögel fangen Sie denn?“
    „Kraniche und Gänse. Manchmal auch Reiher und Schwäne.“
    „Gibt es hier so viele Kraniche?“
    „Aber selbstverständlich doch. Sie schreien doch die ganze Zeit. Haben Sie sie denn nicht gehört?“
    „Nein.“
    „Selbst jetzt kann man sie hören. Spitzen Sie doch einmal die Ohren und lauschen Sie!“
    Die beiden rissen die Augen und Ohren auf. Außer dem Rattern der Eisenbahn und dem Rauschen des Elefantengrases im Wind war nur ein Geräusch zu hören, das wie das Brodeln von siedendem Wasser klang.
    „Wie fängt man eigentlich Kraniche?“
    „Meinen Sie Kraniche oder meinen Sie Reiher?“
    „Ich meine Reiher“, antwortete Giovanni, dem es eigentlich gar nicht wichtig war.
    „Reiher? Das ist gar nicht so schwierig. Die Reiher entstehen ja aus dem Sand der Milchstraße, wenn der sich verdickt. Sie kehren immer wieder an den Fluss zurück. Deshalb muss ich gar nichts anderes tun, als einfach am Ufer zu warten. Wenn die Reiher dann angeflogen kommen, dann winkeln sie die Beine auf diese Weise an. Und genau in dem Moment, in dem sie versuchen zu landen, schnappe ich sie mir und drücke sie zu Boden. Dann werden sie hart und sterben in Seelenfrieden. Und den Rest wissen Sie ja selbst. Ich mache Pressblumen daraus.“
    „Sie machen Pressblumen aus den Reihern? Sie meinen Präparate?“
    „Nein, keine Präparate. Wir essen sie doch!“
    „Das kommt mir etwas seltsam vor“, sagte Campanella, den Kopf schräg haltend.
    „Das ist nicht seltsam und schon gar nicht gelogen. Warten Sie einen Augenblick!“
    Der Mann stand auf um eines der Bündel aus dem Gepäcknetz zu nehmen. Mit flinken Händen schlug er das Tuch auf.
    „Hier, sehen Sie doch selbst. Die habe ich gerade eben erst gefangen.“
    „Kein Zweifel, das sind Reiher“, riefen die beiden überrascht. Ungefähr zehn Exemplare lagen da neben einander, wie Holzreliefs, die schwarzen Beine angelegt, ihre Körper so strahlend weiß wie das Kreuz des Nordens, das sie vorhin passiert hatten.
    „Sie haben die Augen geschlossen.“
    Campanella strich sacht mit dem Finger über die geschlossenen Augen, die die Form eines Mondes drei Tage nach Neumond hatten. Auch der einem Speer ähnliche weiße Zopf am Kopf des Reihers fehlte nicht.
    „Nun, habe ich Sie überzeugt?“, fragte der Vogelfänger, als er das Bündel wieder zusammen schnürte. Wer kommt nur auf die Idee, Reiher zu essen?, wunderte sich Giovanni und fragte: „Schmecken die denn?“
    „Ja, ich bekomme täglich Bestellungen. Aber die Gänse verkaufen sich noch besser. Die sind eine Klasse für sich, und überhaupt machen sie weniger Arbeit. Warten Sie!“
    Dieses Mal öffnete der Vogelfänger das andere Bündel. Da lagen wechselhaft gelblich und bläulich leuchtende Wildgänse, die Schnäbel aneinander gereiht, ebenso flach wie die Reiher von vorhin.
    „Die kann man gleich essen. Wie wär’s? Probieren Sie doch ein Stück!“
    Der Vogelfänger zog ein wenig am Bein einer gelben Gans, das sich ganz leicht abtrennen ließ, so als wäre es aus Schokolade gemacht.
    „Bitte schön. Zögern Sie nicht!“
    Der Vogelfänger reichte Giovanni und Campanella jeweils eine Hälfte des Beins. Giovanni nahm einen kleinen Bissen davon.
    Ich hätte es mir gleich denken können! Das sind bloß Süßigkeiten. Besser als Schokolade sogar. Aber dass diese Gans jemals fliegen konnte, glaubt doch kein Mensch. Dieser Mann ist bestimmt irgendein Bäcker aus der Pampa… Aber wie unfair es doch von mir ist, mich über ihn lustig zu machen, während ich sein Gebäck esse. Mit großen Bissen verschlang Giovanni das Stück.
    „Wie wäre es mit noch ein wenig mehr?“, fragte der Vogelfänger und holte das Bündel wieder hervor.
    „Nein danke“, hielt sich Giovanni diesmal zurück, obwohl er in Wirklichkeit gerne noch mehr gegessen hätte. Da bot der Vogelfänger bereits dem Mann mit dem Schlüssel etwas an. Der Mann zog den Hut und sagte: „Vielen Dank und Entschuldigung, dass ich Ihnen die Waren wegesse.“
    „Keine Ursache. Wie geht es denn mit den Zugvögeln dieses Jahr?"
    „Wirklich ganz wunderbar! Vorgestern, während der zweiten Schicht, lief das Telefon heiß wegen der Beschwerden darüber, dass das Licht des Leuchtturms so unregelmäßig fluktuiert. Als ob das an mir läge! Das sind die dunklen Scharen der Zugvögel, die das Licht abschirmen, wenn sie vor dem Leuchtturm vorbei ziehen. Was soll ich da machen? Drum sag ich denen: ‚Zum Kuckuck, was wollt ihr denn von mir, wendet euch lieber an den Hauptmann Flattermantel, der mit den spindeldürren Beinen und dem spitzen Schnabel, ihr wisst schon wen ich meine, hahaha!’“
    Das Elefantengras war jetzt verschwunden, und von den Feldern strahlte das Licht heller als zuvor in den Wagen.
    „Warum verursachen die Reiher denn so viel Arbeit?“
    Campanella hatte die Frage schon seit vorhin auf der Zunge gebrannt. Der Vogelfänger wandte sich wieder in seine Richtung um.
    „Das liegt daran, dass man die Reiher, bevor man sie essen kann, erst einmal zehn Tage lang im Wasserleuchten des Himmelsflusses hängen lassen muss. Oder, wenn das nicht geht, muss man sie drei oder vier Tage im Sand vergraben. Auf diese Weise verdampft das Quecksilber und sie werden genießbar.“
    „Die Vögel, die Sie da haben, die sind doch nicht echt. Geben Sie doch zu, dass das nur Süßigkeiten sind.“
    Offenbar hatte sich Campanella dasselbe gedacht wie Giovanni. Entschlossen konfrontierte er den Vogelfänger. Der war aber plötzlich auf den Beinen und sagte überstürzt: „Jetzt muss ich aber wirklich aussteigen!“
    Und da hatte er bereits seine Bündel aus dem Gepäcknetz geholt und war spurlos verschwunden.
    „Wo ist der denn bloß hin?“
    Die beiden guckten sich ratlos an. Der Leuchtturmwärter reckte sich grinsend, um zwischen den beiden hindurch aus dem Fenster zu sehen. Als die beiden ebenfalls in die Richtung blickten, sahen sie den Vogelfänger inmitten des gelb-grünlich phosphoreszierenden Ruhrkrauts am Flussufer stehen. Mit ernster Miene blickte er gegen den Himmel, die beiden Arme nach oben gestreckt.
    „Da drüben steht der komische Kauz. Ob er wohl versucht, Vögel zu fangen? Ich hoffe nur, dass einer angeflogen kommt, bevor der Zug weiter fährt!“
    Kaum gesagt, da schneiten die Reiher geradezu aus dem leeren, violetten Himmel. Krächzend tanzten sie in Scharen herab, und der Vogelfänger stand mit im 60-Gradwinkel gespreizten Beinen da, zufrieden darüber, dass alles am Schnürchen verlief. Mit beiden Händen griff er nach den zur Landung angewinkelten, schwarzen Beinen der Reiher, drückte sie zusammen und packte sie in einen Leinenbeutel. Wie Glühwürmchen leuchteten die Reiher noch eine Weile grünlich auf, bis sie schließlich ganz bleich und weiß wurden und die Augen schlossen. Doch noch größer als die Zahl der gefangen Vögel war die Anzahl derer, denen es gelang, unversehrt auf dem Sand des Himmelsflusses zu landen. Als sie genau hinsahen, erkannten sie, dass die Vögel genau in dem Augenblick, in dem sie mit den Füßen den Sand berührten, anfingen wie Schnee zu schmelzen. Sie schrumpften zusammen und dehnten sich flach auf dem Sand aus, wie Pfützen aus Bronze, das man in einem Hochofen geschmolzen hat. Für eine Weile war die Form der Vögel noch auf dem Sand zu erkennen, dann blinkten sie noch zwei oder drei Mal auf und lösten sich vollkommen in der Farbe ihrer Umgebung auf.
    Nachdem sich der Vogelfänger ungefähr zwanzig Reiher geschnappt und in seinem Beutel verstaut hatte, hob er plötzlich beide Arme und sank zusammen wie ein Soldat, der von einer Patrone auf dem Schlachtfeld getroffen wurde. Und da war er auch schon wieder verschwunden.
    „Das tat aber gut! Was könnte besser sein, als genau so viel zu arbeiten, dass es der Gesundheit dient und zum Leben reicht?“
    Neben Giovanni erklang eine vertraute Stimme. Der Vogelfänger war bereits dabei, die gefangenen Reiher einen nach dem anderen sauber übereinander zu legen.
    „Wie haben Sie das geschafft, mit einem Satz hierher zu kommen?“, fragte Giovanni. Er war sich selbst nicht im Klaren, ob das die natürlichste Sache der Welt war oder irgendein Hokuspokus.
    „Was meinen Sie damit, wie ich das geschafft habe? Ich wollte her, also bin ich hier. Und woher kommen Sie überhaupt?“
    Giovanni wollte gleich etwas erwidern, doch als er sich fragte, woher er eigentlich gekommen war, kam ihm keine Antwort in den Sinn. Auch Campanella schien mit knallrotem Kopf zu versuchen, sich an irgendetwas zu erinnern.
    „Ich verstehe, Sie kommen aus der Ferne.“
    Der Vogelfänger nickte einfach, so als hätte er tatsächlich verstanden.

9. Giovannis Fahrkarte


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