Jarbuch 2007

Antaiji


Matthias (Berlin, 50, Designer)


Noch vor dem Morgengrauen besteige ich den ersten Zug der an diesem Tag Kyotos futuristischen Haupbahnhof in Richtung des chinesischen Meeres verlässt. Nach mehrmaligem Umsteigen erreicht der fast leere Vorortzug am frühen Vormittag ein kleines Städtchen an der Japanischen Küste. Als ich mich nach dem Weg ins Kloster erkundige duldet der Wirt einer freundlichen Fischerkneipe keine Wiederrede und so folge ich der Einladung zu einem frühen Mittagessen. Ein längerer Fussmarsch führt mich vorbei an Reisfeldern in die dichten Wälder eines Hochtales. Eine Steintreppe im Wald markiert das unerwartete Ende des Aufstieges zum Hochplateau. Werner der den Weg schon vor einigen Stunden genommen hat zeigt mir den Holzhammer am Eingang und mit einem kleinen Ritual ist meine Ankunft im Kloster besiegelt.

Als der Jikido am nächsten Morgen um halb vier die Glocke läutet ist es draussen noch kalt und dunkel. Schweigend sitzen wir im Dojo. Es ist mein fünfzigster Geburstag, die Vögel erwachen, der Wind rüttelt an den Shojiwänden und ich bin glücklich. Ohne Vorkenntnisse, ohne Übung und ohne Rückflugticket aber mit der Gewissheit vieler Jahre in denen ich bereits davon geträumt habe sitze ich in einer Reihe mit den schwarzgekleideten Zenmönchen und schaue auf die Wand vor mir.

Im Kloster werden nicht viele Worte gemacht: "Wir rudern dich zur Mitte des Sees und dann musst du schwimmen" - eher intuitiv lerne ich innerhalb der nächsten 2 Wochen etwas über Zen. Anstatt auf den Feldern zu arbeiten mache ich mich gemeinsam mit Werner als Kloster-Mechaniker verdient, schaue nach dem Keilriemen des Snowmobils, schmiere die Hydraulik des Bagers, ersetze den Anlasser des Raupenschleppers. Auch die dieselgetriebene Kreissäge bekommt eine Überholung. Mit dem Ölkännchen und Schraubenschlüssel habe ich zuletzt vor 30 Jahren gearbeitet. Aber die Freude im Umgang mit den Maschinen lässt mich meinen Platz im Kreis der Mönche finden. Der Klosteralltag hat einen eindeutigen Ablauf, mit definierten Regeln und Pflichten. Unsere Tage sind klar strukturiert – morgends zwei Stunden Meditation, Frühstück, Arbeit, Mittagessen, Arbeit, Abends zwei Stunden Meditation, Schlafen. Was ich dabei schätzen lerne: innerhalb dieser klaren Struktur und dem vielen Schweigen entsteht ein grosser Raum für meine Ruhe, für einige wenige aber umso klarere Gedanken. Und diese Freiheit nehme ich nach zwei langen Wochen wieder mit in meinen Alltag, dem schnellen Leben eines urbanen Täters. Die Freiheit sich nicht so viele Gedanken zu machen.

Antaiji ist in meinem Herzen.


Matthias Dietz


Berlin am 24.10.2007

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