Antaiji

Kloster des Friedens

Die Nacht in der transgalaktischen Eisenbahn
13. Der tanzende Indianer


   Der Zug fuhr jetzt langsamer an ein paar Signalposten und Weichenlaternen vorbei, bevor er wieder an einem kleinen Bahnhof zum Stillstand kam. Die bläulich-weiße Uhr ihnen gegenüber zeigte exakt die zweite Stunde an. Kein Wind wehte mehr, der Zug bewegte sich nicht, und auf der weiten Flur waren nun nur noch das Schwingen des Pendels und das Ticken der Uhr zu vernehmen, die präzise wie ein Metronom die Zeit markierte. So wie ein feiner Spinnfaden, der sich in die Intervalle des Tickens schmiegt, kam aus der weiten Ferne des Himmelsfeldes eine ganz, ganz sanfte Melodie herbei getrieben.
   „Es ist die Musik aus der Neuen Welt!“, sagte Kaoru zu sich selbst. Der junge, großgewachsene Mann im schwarzen Anzug war in sanfte Träume versunken, und so ging es jetzt auch allen anderen Reisenden im Abteil.
   Es ist so schön still hier, und doch will mir einfach nichts mehr Spaß machen. Warum nur? Warum fühle ich mich so einsam und allein? Und wie gemein dieser Campanella doch ist. Wir haben uns zu zweit auf die Reise begeben, und jetzt sitzt er da und unterhält sich nur noch mit dem Mädchen da. Ich fühle mich wirklich mies!
   Das Gesicht zur Hälfte in seinen Händen versteckt blickte Giovanni wieder zum Fenster auf der anderen Seite des Wagens heraus. Der durchdringende Ton einer Glaspfeife war zu hören, und leise setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Traurig pfiff Giovanni das Lied vom Sternenkarusell vor sich hin.
   „Ja genau, wir sind hier ja mitten auf dem Hochplateau.“, sagte die Stimme eines älteren Mannes hinter ihnen, der wahrscheinlich bis eben geschlafen hatte, so frisch plauderte er jetzt vor sich hin: „Selbst für den Mais muss man mit der Stange einen halben Meter tief Löcher in den Boden bohren, sonst keimen die Körner nicht.“
   „Ist das wahr? Dann muss der Fluss jetzt aber sehr weit unter uns liegen.“
   „Allerdings! Wir fahren zwischen 2000 und 6000 Fuß über dem Fluss. Das ist wirklich ein höllischer Abgrund hier.“
   Stimmt, das muss das Hochplateau von Colorado sein!, schoss es da Giovanni durch den Kopf. Ihm gegenüber wiegte Kaoru ihren kleinen Bruder Tadashi auf dem Schoß, seinen Kopf gegen ihre Brust gelehnt. Ihre dunklen Augen blickten weit in die Ferne, sie war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Wieder fing Giovanni an, traurig ein Lied zu pfeifen. Tadashi hatte das Gesicht, das wie ein in Samt gehüllter Apfel leuchtete, in dieselbe Richtung wie Giovanni gewandt: Dort war der Mais plötzlich verschwunden, und stattdessen breitete sich jetzt eine weite Prärie vor ihren Augen aus. Die Musik aus der Neuen Welt strömte ihnen jetzt ganz klar aus der Tiefe der Ebene entgegen. Und mitten in der schwarzen Prärie war ein Indianer mit einem weißen Federkranz auf dem Kopf zu sehen, beide Arme und die Brust mit vielen Steinen geschmückt. Einen Pfeil in seinen kleinen Bogen gespannt kam er dem Zug hinterher gestürmt.
   „Ein Indianer, ein Indianer! Kaoru, sieh nur!“
   Auch der junge Mann war jetzt aufgewacht. Giovanni und Campanella hatten sich von ihren Plätzen erhoben.
   „Er kommt uns nachgejagt! Versucht er, uns zu erwischen?“
   „Nein, er jagt nicht dem Zug nach. Entweder er jagt nach einem Tier, oder er führt einen Tanz aus.“, sagte der junge Mann, der jetzt, die Hände selbstvergessen in die Taschen gesteckt, neben ihnen stand. Tatsächlich sah es so aus, als tanzte der Indianer zur Hälfte. Denn wenn es ihm im Ernst darum gegangen wäre, dem Zug nachzujagen, dann wäre die Art und Weise, wie er mit den Füßen stampfte, doch sehr unwirtschaftlich gewesen. Der hell-weiße Federschmuck des Indianers fiel ihm plötzlich nach vorne ins Gesicht. Im selben Moment blieb er stehen und schoss seinen Pfeil in Richtung Himmel. Von dort kam ein Kranich herabgefallen, den der Indianer, der wieder losgelaufen war, mit ausgebreiteten Armen auffing. Froh lachend stand er da. Doch auch die Gestalt des Indianers, der mit dem Kranich in den Armen dem Zug nachblickte, wurde bald immer kleiner und ferner. Zwei Porzellanisolatoren an einem Telegraphenmasten zogen glitzernd an ihnen vorbei, und schon befanden sie sich wieder in einem Hain aus Maisstauden. Durch das Fenster auf ihrer Seite konnten sie erkennen, dass der Zug wirklich am Rand einer sehr, sehr hohen Klippe entlang fuhr. Auf dem Grund der Schlucht strömte der Fluss breit dahin.
   „Ja, von hier aus geht es bergab. Das ist gar nicht so ohne, denn der Zug muss ja mit einem Schlag bis auf die Höhe des Flusses hinunter. Bei dem Gefälle versteht man auch, warum kein Zug es jemals schaffen würde, aus der anderen Richtung wieder hier hoch zu kommen. Sehen Sie, wir fahren jetzt schneller und schneller!“, sagte die Stimme des alten Mannes, die sie bereits vorhin gehört hatten.
   Tiefer und tiefer fuhr der Zug hinab. Dort, wo die Schienen am Rand der Schlucht verliefen, war der Fluss unter ihnen hell zu erkennen. Giovannis Stimmung besserte sich nun allmählich. Als der Zug an einer Hütte vorbei kam, vor der ein kleines Kind einsam stand, rief er ohne ein Zögern: „Hallooo!“
   Der Zug beschleunigte immer mehr. Die Reisenden im Abteil wurden zur Hälfte nach hinten geworfen, nur mit Mühe hielten sie sich auf ihren Sitzen fest. Giovanni und Campanella konnten sich ein Lachen nicht verkneifen. Und da war auch schon der Himmelsfluss direkt neben der Eisenbahn zu sehen. Seine funkelnd leuchtende Oberfläche gab zu erkennen, dass er bis eben noch wild rauschend ins Tal geströmt sein musste. Überall blühten nun rosarote Prachtnelken, und der Zug fuhr wieder gemächlich vor sich hin. An beiden Ufern des Flusses wehten mit Sternen und Hacken bemalte Fahnen.
   „Was das bloß für Fahnen sind?“, öffnete Giovanni endlich den Mund.
   „Ich habe keine Ahnung, auf der Karte sind die auch nicht verzeichnet. Aber da ist auch ein Boot aus Eisen!“
   „Ja, Du hast recht!“
   „Vielleicht bauen sie eine Brücke?“, sagte da Kaoru.
   „Stimmt, das sind die Fahnen der Pioniertruppen. Sie führen wohl gerade ein Brückenlegemanöver aus. Aber ich sehe keine Spur von den Soldaten selbst!“
   Im selben Augenblick stieg am anderen Ufer, ein wenig flussabwärts, eine hell leuchtende Wassersäule in den Himmel. Es knallte ohrenbetäubend.
   „Sie sprengen, sie sprengen!“, rief Campanella ganz außer sich. Als sich die transparente Wassersäule auflöste, waren Lachse und Forellen sehen, die von der Explosion in die Luft geschleudert worden waren. Ihre strahlend weißen Bäuche beschrieben weite Bögen, dann tauchten sie zurück in das Wasser. Giovanni wäre am liebsten selbst in die Luft gesprungen, so leicht fühlte er sich.
   „Das sind die Pioniere der Lüfte! Schau nur, wie die Forellen durch die Gegend fliegen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Mann, macht diese Reise Spaß!“
   „Aus der Nähe betrachtet sind diese Forellen bestimmt ganz schön groß. Das Wasser hier muss voller Fische sein.“
   „Gibt es hier auch kleinere Fische?“, fragte Kaoru, die schon die ganze Zeit neugierig zugehört hatte.
   „Ganz bestimmt. Wenn es schon so viele große Fische gibt, dann gibt es sicher auch viele kleine Fische. Die können wir jetzt nur nicht sehen, weil wir so weit weg sind.“, erklärte ein froh lachender Giovanni dem Mädchen. Inzwischen hatte er wirklich die allerbeste Laune.

14. Das Gebet des Skorpions


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