Antaiji

Kloster des Friedens

Die Nacht in der transgalaktischen Eisenbahn
17. Campanellas Vater


   Giovanni öffnete die Augen. Er war erschöpft im Gras auf dem Hügel eingeschlafen. Seine Brust war seltsam heiß, kalte Tränen liefen ihm über die Wangen. Wie eine Feder sprang er auf. Noch immer waren unten in der Stadt zahlreiche Lichter aufgereiht, doch es schien, als brannten sie jetzt heißer als vorhin. Die Milchstraße, die Giovanni eben im Traum entlang gefahren war, hing als der selbe milchig-weiße Dunst am Himmel. Besonders im Süden, über dem schwarzen Horizont, zeichnete sich der weiße Streifen deutlich ab. Herrlich blinkte rechts davon der rote Stern des Skorpions. Die Position der Sterne am Himmel hatte sich kaum verändert.
   Ohne einen Halt lief Giovanni den Hügel hinab. In seiner Brust erinnerte er sich wieder an die Mutter, die bestimmt auf ihn wartete ohne zu Abend gegessen zu haben. Er durchquerte den schwarzen Kiefernwald, machte einen Bogen um den weißen Zaun des Bauernhofs und kam schließlich vor dem dunklen Kuhstall an. Jemand schien in der Zwischenzeit zurück gekommen zu sein, denn dort stand ein Wagen mit zwei Fässern, den er vorhin nicht bemerkt hatte.
   „Guten Abend!“, rief Giovanni.
   „Ja, was gibt’s?“, fragte der Mann in einer weiten, weißen Hose, der aus dem Stall getreten war.
   „Heute ist die Milch bei uns nicht geliefert worden.“
   „Das tut mir aber leid.“
   Der Mann ging nach hinten und kam sofort mit einer Milchflasche zurück, die er Giovanni reichte.
   „Ich muss mich wirklich entschuldigen. Heute mittag habe ich vergessen, das Zauntor bei den Kälbern richtig zu schließen. Der wilde Kerl hier ist mir da doch gleich zu seiner Mutter abgehauen und hat die Hälfte der Milch getrunken!“, erzählte er lachend.
   „Ach, nein! Dann aber vielen Dank für die Milch.“
   „Nichts zu danken, und nichts für ungut bitte!“
   „Keine Ursache!“
   Giovanni ging durch das Zauntor hinaus, beide Hände um die noch warme Milchflasche gelegt. Für eine Weile ging er unter Bäumen, dann kam er auf eine weite Chaussee. Die Chaussee führte ihn wieder an die Kreuzung, auf deren rechter Seite sich die Brückenschanze unscharf vor dem Nachthimmel abzeichnete. Vorhin war Campanella hier mit seinen Freunden die Laternen in den Fluss setzen gegangen. Jetzt stand vor den Häusern und Läden an der Kreuzung eine Gruppe von Frauen, die sich mit zusammen gesteckten Köpfen etwas zuflüsterten, die Blicke auf die Brücke gerichtet. Und auf der Brücke selbst wimmelte es geradezu vor Lichtern. Aus unerklärlichem Grund spürte Giovanni, wie ihm ein eiskalter Schauer durch die Brust fuhr. Er fragte eine der Frauen: „Was ist denn passiert!?“
   Seine Stimme klang wie ein Schrei.
   „Ein Kind ist in den Fluss gefallen.“, antwortet die Frau. Alle Blicken waren nun auf Giovanni gerichtet. Ohne ein weiteres Wort rannte Giovanni zu der Brücke. Auf der Brücke standen bereits so viele Menschen, dass man vom Fluss nichts sehen konnte. Auch ein Polizist in einer weißen Uniform war darunter.
   Giovanni sprang vom Brückenende hinab auf das breite Flussufer. Am Wasserrand gingen Menschen mit Fackeln aufgeregt auf und ab. Auch an der Böschung auf der anderen Seite des Flusses bewegten sich einige Lichter in der Dunkelheit. Dazwischen strömte der Fluss langsam dahin, leise murmelnd und grau und ohne eine Spur von den Kürbislaternen. Auf einer Sandbank flussabwärts hatte sich eine Anzahl pechschwarzer Gestalten versammelt. Giovanni lief aus sie zu. Da sah er Marceau, der eben noch mit Campanella zusammen gewesen war. Marceau lief auf ihn zu.
   „Giovanni, Campanella ist in den Fluss gestürzt!“
   „Wie ist das passiert? Und wann?“
   „Sanelli hat vom Boot aus versucht, die Kürbislaternen den Fluss herab zu schwemmen. Da kam das Boot aus dem Gleichgewicht und sie fiel ins Wasser. Campanella sprang gleich hinter her und half ihr zurück in das Boot. Sanelli klammerte sich an Cato fest, aber von Campanella fehlt seitdem jede Spur!“
   „Aber Ihr habt doch nach ihm gesucht?“
   „Ja, alle sind sofort gekommen um zu helfen. Campanellas Vater ist auch gekommen. Doch wir können ihn nicht finden. Sanelli haben sie inzwischen nach Hause gebracht.“
   Giovanni ging zu den anderen. Umgeben von Schülern und den Leuten aus der Stadt stand Campanellas Vater aufrecht da. Das Gesicht des Gelehrten mit dem spitzen Kinn war bleich. Er trug einen schwarzen Mantel und hatte die Augen auf die Uhr gerichtet, die er in seiner linken Hand hielt. Alle anderen beobachteten den Fluss. Keiner sagte ein Wort. Giovanni schlotterten die Beine. Die Leute suchten den Fluss eifrig mit Acetylen-Lampen ab, wie man sie zum Fischen verwendet. Der Fluss strömte dunkel dahin, nur die kleinen Wellen an seiner Oberfläche glitzerten in der Nacht.
   Weiter flussabwärts spiegelte sich die Milchstraße in der weiten Oberläche des Flusses. Fast schien es so, als sei der Fluss selbst der Himmel. Giovanni konnte das Gefühl nicht unterdrücken, das Campanella jetzt nicht mehr hier, sondern längst am Rand der Milchstraße angelangt war. Doch die anderen schienen noch zu hoffen, dass Campanella irgendwo zwischen den Wellen den Kopf hervorstrecken möge: „Habt Ihr gesehen, wie viel ich geschwommen bin?“
   Oder war er vielleicht an eine andere Sandbank getrieben worden und wartete dort, dass ihn jemand finden möge?
   Plötzlich sagte Campanellas Vater: „Es hat keinen Sinn mehr. Es ist ja schon eine dreiviertel Stunde vergangen, seit er in den Fluss gestürzt ist.“
   Giovanni ging herüber zu dem Gelehrten, um ihm zu sagen: Ich weiß wo Campanella ist. Ich habe ihn begleitet! Doch die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Der Gelehrte, der zu glauben schien, dass Giovanni sein Beileid ausdrücken wollte, blickte ihm tief in die Augen und sagte höflich:
   „Vielen Dank für alles, was Du heute abend getan hast. Du bist Giovanni, nicht wahr?“
   Giovanni verbeugte sich stumm.
   „Ist Dein Vater schon zurück gekommen?“, fragte er nun, die Uhr noch immer fest in die Hand geschlossen.
   „Nein.“
   Giovanni schüttelte leicht den Kopf.
   „Das ist seltsam. Vorgestern habe ich einen Brief von ihm bekommen. Er klang, als ob er bester Dinge sei. Heute sollte er eigentlich bereits angekommen sein. Vielleicht hat sich ja das Schiff verspätet. Giovanni, komm doch morgen nach der Schule mit den anderen bei mir vorbei.“
   Mit diesen Worten blickte der Gelehrte flussabwärts, in die Richtung, in der sich die Milchstrasse spiegelte. Giovannis Brust war so voll von Dingen, die er unmöglich hätte in Worte fassen können. Er trennte sich von Campanellas Vater, um seiner Mutter schnell ihre Milch zu bringen. Wie ein Blitz lief er am Flussufer entlang in Richtung der Stadt, um seiner Mutter mitzuteilen:
   Vater kommt zurück!


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