Antaiji

Kloster des Friedens

Die Nacht in der transgalaktischen Eisenbahn
6. Im Bahnhof der Milchstraße



    Giovanni beobachtete, dass die Wetteradsäule hinter ihm die Gestalt eines verschwommenen, dreieckigen Signals angenommen hatte, das für eine Weile rhytmisch wie ein Glühwürmchen aufblinkte. Langsam zeichneten sich die Konturen klarer ab, bis es auf dem kobaltblauen Himmelsfeld zu einer festen Form erstarrte. Reglos streckte sich das Signal in das Firmament aus frisch legiertem Stahl.
    Von irgendwoher war plötzlich eine wundersame Stimme zu hören:„Bahnhof Milchstraße, hier Bahnhof Milchstraße!“
    Und im selben Augenblick war alles hell, so als erfüllte das Licht von Milliarden versteinerter Leuchtkalmaren die Tiefen des Himmels. So als hätte einer mit einem Mal den gesamten Vorrat an Diamanten verstreut, den die Diamantgesellschaft so vorsichtig versteckt hatte, um die Preise in die Höhe zu treiben. Wieder und wieder wischte sich Giovanni die Augen.
    Erst da bemerkte er das Rütteln und Schütteln: Er saß in einer kleinen Eisenbahn! Es gab keinen Zweifel, er blickte durch Fenster eines nächtlichen Schmalspurzugs, dessen Abteil von einer Reihe gelber Glühbirnen erleuchtet wurde. Die mit grünem Samt überzogenen Sitze des Abteils waren kaum besetzt. An der grau lackierten Wand vor ihm glitzerten zwei große Messingknöpfe.
    Vor ihm saß ein großgewachsener Junge in einer vom Wasser triefenden, dunklen Jacke, der den Kopf durch das Fenster gestreckt nach draußen blickte. Irgendwie kamen Giovanni die Schultern des Jungen bekannt vor. Wer ist das?
    Gerade wollte Giovanni selbst den Kopf zum Fenster heraus strecken, da drehte sich der Junge unverwandt zu ihm um. Es ist Campanella! Seit wann bist Du denn hier?
    Bevor Giovanni etwas sagen konnte, hatte Campanella bereits gesprochen: „Die anderen sind gelaufen, so schnell sie konnten, aber sie haben uns nicht mehr erwischt. Selbst Sanelli hat den Zug verpasst.
    Jetzt verstehe ich, wir haben uns alle zu einem Ausflug verabredet, dachte Giovanni und sagte:
    „Wollen wir auf die anderen nicht irgendwo warten?“
    „Nein, Sanelli und die anderen sind ohnehin schon umgekehrt. Ihr Vater ist sie abholen gekommen.“
    Während er sprach, wurde Campanella bleich im Gesicht, als ginge es ihm nicht gut. Und auch Giovanni fühlte sich komisch, als hätte er etwas wichtiges vergessen, und begann zu schweigen. Doch während er wieder aus dem Fenster blickte, schien sich Campanella erholt zu haben.
    „So ein Mist, ich habe meine Wasserflasche vergessen! Und meinen Zeichenblock ebenfalls. Aber das macht nichts. Denn bald werden wir am Bahnhof des Schwans ankommen. Die Schwänen zu beobachten macht mir wirklich Spaß. Selbst wenn sie auf der anderen Seite des Ufers fliegen, kann ich sie ausmachen.“, sagte Campanella plötzlich wieder mit munterer Stimme und drehte die runde Tafel ins seiner Hand hin und her. Auf ihr war zu sehen, wie die Eisenbahnlinie am linken Ufer des weiß gekennzeichneten Himmelsflusses weiter und weiter nach Süden verläuft. Was für eine besondere Karte das ist! Auf der Tafel, die so schwarz wie die Nacht war, war jede einzelne Haltestation verzeichnet. Und nicht nur das: Dreieckige Signale, kleine Quellteiche und Wälder leuchteten in Blau, Orange, Grün und allen möglichen wundervollen Farben auf.
    Giovanni kam es so vor, als hätte er diese Karte schon einmal irgendwo gesehen.
    „Wo hast Du denn diese Tafel gekauft? Sie sieht aus, als wäre sie aus Obsidian geschnitten.“
    „Die habe ich am Bahnhof Milchstraße bekommen. Hast Du denn keine?“
    „Bahnhof Milchstraße? Ich kann mich gar nicht mehr genau erinnern, ob ich da überhaupt durchgekommen bin. Jetzt sind wir hier, stimmt’s?“, fragte Giovanni und hielt den Finger ein Stückweit nördlich der Markierung, neben der „Bahnhof Schwan“ geschrieben stand.
    „Genau. Aber guck Dir mal das Flussufer an: Ist das dadrüben das Mondlicht?“
    Campanella wieß auf das bläulich schimmernde Ufer der Milchstraße, an dem sich die silbern rauschenden Wellen der Elefantengrasähren brachen.
    „Nein, das ist nicht das Mondlicht, das ist die Milchstraße selbst, die sich in den Ähren reflektiert!“, rief Giovanni, der sich, vor Freude von einem Fuß auf den anderen springend, aus dem Fenster lehnte und das Lied vom Sternenkarussell pfiff. Er versuchte angestrengt, das Wasser des Himmelsflusses zu erkennen, doch anfangs konnte er nichts Genaues sehen. Nachdem er eine Weile den Blick aufmerksam nach draußen gerichtet hatte, bemerkte er, dass das Wasser klarer und reiner als Glas oder selbst Wasserstoff war. Täuschen mich meine Augen, oder sehe ich da wirklich ganz feine, violette Wellen, in denen sich das Licht wie ein Regenbogen bricht?
    Auf beiden Seiten des lautlosen Stroms standen herrlich phosphoreszierende Signalpyramiden. In weiter Ferne waren sie klein, in der Nähe ganz groß. Als ein scharfes Orange oder Gelb erschien Weitentferntes, als ein dunstig-bleiches Blau das Nahe. Hier flackerten Dreiecke, dort Vierecke, und auch Ketten und Blitze leuchteten auf, jede Gestalt an ihrem Platz auf dem Himmelsfeld. Ganz aufgeregt schwenkte Giovanni den Kopf hin und her. Und tatsächlich winkten und blinkten nun auch die blauen und orangen Signalpyramiden, als teilten sie alle den selben Atem.
    „Ich bin wirklich auf dem Himmelsfeld angekommen!“, rief Giovanni und bemerkte dann, mit der linken Hand über den Augen nach vorne aus dem Fenster blickend:
    „Die Lokomotive fährt aber nicht mit Kohle.“
    „Sie muss mit Spiritus oder Elektrizität angetrieben werden“, meinte Campanella.
    Da erklang aus dem Dunst weiter Ferne das Schrammen eines Cellos.
    „Diese Lokomotive wird nicht mit Dampf oder Strom angetrieben. Sie bewegt sich einfach, weil sie sich zu bewegen hat. Ihr glaubt, dass sie sich rüttelnd fortbewegt, aber das liegt nur daran, dass Ihr keine andere Art von Lokomotiven kennt.“
    „Hast Du diese Stimme gehört? Die kenne ich von irgendwo her.“
    „Ja, die kenne ich auch. Im Wald oder am Fluss, da habe ich sie schon oft gehört.“
    Rüttelnd fuhr der Zug weiter und weiter inmitten der sich im Wind wogenden Elefantengräser, entlang am Wasser des himmlischen Flusses, vorbei an bläulich schimmernden Dreicksfiguren.
    „Sieh, da blühte der scharfe Enzian. Es ist schon richtig Herbst!“, sagte Campanella, mit dem Finger aus dem Fenster zeigend. Der Grassaum entlang der Gleise war geschmückt mit violettem Herbstenzian. Er blühte so wundervoll, als sei er aus Mondstein gemeißelt. Giovannis Herz tanzte vor Freude.
    „Soll ich mal eben abspringen und die pflücken? Ich springe hinterher wieder auf!“
    „Zu spät! Guck doch, wie weit zurück die schon liegen.“
    Doch gerade als Campanella so antwortete, zog bereits das nächste Feld mit leuchtendem Enzian an ihnen vorbei. Und bevor sie sich versahen, kam schon das nächste, und dann wieder eines... Die Kelche der Enzianblüten, innen ganz gelb, sprudelten auf wie Wasserblasen, prasselten herab wie Regen. Vor ihren Augen stieg die Kette der Signalpyramiden als ein hell leuchtender, brennender Rauch empor.

7. Das Kreuz des Nordens und die Pliozänküste


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