Sind wir nicht alle sehr gewöhnliche Menschen?

von Sawaki Kōdō Rōshi
Ein Auszug aus dem Buch „Tag für Tag ein guter Tag“ von Sawaki Rōshi, das im April 2008 im Angkor-Verlag erschienen ist. Das Buch kann im Buchhandel oder bei Amazon bestellt werden.

Muho

Wir unterscheiden uns nur in dem, woran wir festhalten

„Was du für richtig hälst, halte ich für falsch. Was ich für richtig halte, hälst du für falsch. Sind wir nicht beide sehr gewöhnliche Menschen?“

Das ist ein Zitat von Prinz Shōtoku aus dem zehnten Artikel seiner 17-Artikel-Verfassung. Das Zitat ist noch etwas länger, hier habe ich erstmal nur den wichtigsten Punkt aufgeschrieben.

Alle Menschen haben ihre eigene, persönliche Meinung. Die Jugend von heute sagt über die Leute der Meiji-Zeit, sie seien so stur, dass ihnen nicht mehr zu helfen ist. Die Menschen, die während der Meiji-Zeit aufwuchsen, erwidern dagegen: „Es sind die jungen Leute heutzutage, denen man einmal auf die Sprünge helfen sollte!“ Jeder von uns hält an etwas anderem fest. Deshalb fragt Prinz Shōtoku: „Denkt nicht jeder Geist auf seine eigene Weise?“ Wir sind in verschiedenen Ländern aufgewachsen, haben verschiedene Gene geerbt, verschiedene Gewohnheiten entwickelt und verschiedene Freundschaften geschlossen. Wir sind alle verschieden. Aber, noch einmal in den Worten der 17-Artikel-Verfassung: „Was stört es uns, wenn die anderen anders denken als wir? Haben wir nicht alle unseren eigenen Sinn, und denkt nicht jeder Geist auf seine eigene Weise? Was du für richtig hälst, halte ich für falsch. Was ich für richtig halte, hälst du für falsch. Wer hat hier die Weisheit für sich gepachtet? Kannst du dir so sicher sein, dass ich im Irrtum bin? Kann ich mir so sicher sein, dass du im Irrtum bist? Sind wir nicht beide gewöhnliche Menschen?“ Dass wir alle gewöhnliche, fehlbare Wesen sind, das gilt auch in der Familie, zwischen Eltern und Kindern, Schwestern und Brüdern. Und in größerem Rahmen zum Beispiel auch für die Sowjetunion und Amerika. Alles gewöhnliche Menschen.

Es gibt drei Theorien, wann Prinz Shōtoku geboren wurde. Manche nennen das Jahr 572, andere 573, wieder andere 574. Wie dem auch sei, irgendwann um den Beginn der Regierungszeit des Kaisers Bidatsu erblickte er das Licht der Welt. Ich selbst habe für acht Jahre im Hōryūji studiert. Das lag daran, dass ich kein Geld hatte. Genau genommen ist das nicht ganz richtig: Ich bekam ja den monatlichen Veteranenlohn, seit dem ich aus dem Russisch-Japanischen Krieg zurückkam, und dazu noch eine Invalidenrente. Aber meine Adoptiveltern hatten während des Krieges Schulden gemacht mit dem Versprechen, sie mit dem Geld zurück zu zahlen, das sie vom Staat bekommen hätten, wenn ich an der Front gefallen wäre. Da ich aber lebend zurück kam, wollten sie, dass ich ihre Schulden mit meiner Veteranen- und Invalidenrente begleiche. Also überwies ich ihnen jeden Monat so viel ich konnte und behielt nur zwei oder drei Yen für mich. Deshalb war es für mich nicht möglich, irgendwo in Tōkyō zu studieren, denn damals war es – anders als heute – noch nicht üblich, sich mit Jobs etwas dazu verdienen. Und ohne Geld kein Studium…

Doch im Hōryūji war es möglich, ganz billig zu leben, denn ich musste nur für meine eigene Verpflegung aufkommen, die mal nur aus Bohnen, dann wieder nur aus Weizen bestand. Noch heute fühle ich mich dem Prinz Shōtoku irgendwie sehr verbunden. Denn ich habe damals ja keine Miete bezahlt, musste höchstens ein paar Mal im Monat im Tempelbüro aushelfen. Das war also so, als würde ich auf Kosten des Prinzen Shōtoku studieren.

Wenn der damalige Abt, Saeki Jōin (1867-1952), auf Reisen ging, kam es auch vor, dass ich ihn vertreten musste. Der hielt nämlich jedes Jahr im Sommer für hundert Tage am Stück Vorlesungen über das Lotus-Sutra, Srimala Sutra und Vimalakirti-Sutra. Während dieser hundert Tage verließ Saeki Jōin den Tempel aber auch hin und wieder, und dann musste ich für ihn bei den Vorlesungen einspringen. Da versteht es sich von selbst, dass ich auch viel von und über den Prinzen Shōtoku lesen musste. Und auch heute noch steckt in meinem Kopf vieles vom Prinz Shōtoku, dem Hōryūji oder der Suiko-Zeit.

In was für eine Zeit wurde Prinz Shōtoku hinein geboren? Als er sieben Jahre alt war, wurde der Buddhismus zum ersten Mal in Japan bekannt gemacht. Damals stritt sich der Mononobe-no-Moriya mit dem Soga-no-Umako darüber, ob der Buddhismus in Japan eingeführt werden solle oder nicht. Da ging es drunter und drüber, und am Ende ist Moriya dabei draufgegangen. Doch als es so aussah, als wäre die Geschichte damit beendet, schlug Umako, dem der Kontrahent abhanden gekommen war, außer Rand und Band und versuchte sogar, sich gegen die Kaiserin durchzusetzen.

Zu dieser unruhevollen Zeit importierte Japan über die koreanische Halbinsel mehr und mehr Kulturprodukte Chinas und Indiens. Japan war also nicht nur mit sich selbst schwer beschäftigt. Bis damals war es üblich gewesen, dass die diplomatischen Beziehungen von Ausländern, die nach Japan eingewandert und der chinesischen Sprache mächtig waren, geregelt wurden. Prinz Shōtoku war der erste, der persönlich diplomatische Briefwechsel verfasste. Als die Kaiserin Suiko den Thron bestieg übernahm ihr Neffe, der Prinz Shōtoku die Regierungsgeschäfte. Damals war er noch 19. Von seinem 19. Lebensjahr an war Prinz Shōtoku für 30 Jahre lang mit der Regierung Japans betraut.

Während dieser Zeit, besonders im ersten Monat seines zwölften Amtsjahres, geriet das Land in großen Tumult. Deshalb legte Prinz Shōtoku zunächst eine Hierache von zwölf offiziellen Rängen am Hof fest, und drei Monate später verfasste er die 17 Artikel. Und im zehnten Artikel schreibt er:  „Was du für richtig hälst, halte ich für falsch. Was ich für richtig halte, hälst du für falsch. Sind wir nicht beide sehr gewöhnliche Menschen?“

Ministerpräsident Nehru nannte Prinz Shōtoku und Ashoka, den König des indischen Altertums, Beispiele von vorbildlichen Regenten in der Menschheitsgeschichte in Ost und West. An diese beiden reiche bis heute kein Politiker heran.

Die Menschen sind keinen Schritt weiter gekommen

Zu allen Zeiten haben sich die Menschen gestritten. Nichts spricht dagegen, dass wir uns gut vertragen sollten, aber letztlich gilt doch immer: „Was du für richtig hälst, halte ich für falsch. Was ich für richtig halte, hälst du für falsch. Sind wir nicht beide sehr gewöhnliche Menschen?“

Eltern streiten sich mit ihren Kindern, der Mann mit seiner Frau. Die Frau in einer der Familien, bei denen ich auf meinen Reisen übernachte, ist Vorsteherin des Damenvereins von Kyūshū. Bei dem Thema Gleichberechtigung wurde da diskutiert, ob Frauen sich nicht ein oder zwei Geliebte halten sollen, wenn ihre Männer ohnehin das Gleiche tun. Aber heute wird mein Vortrag auf Tonband aufgezeichnet, da will ich mir lieber nicht die Zunge verbrennen…

Wie dem auch sei, die Streitereien nehmen kein Ende. Das Problem ist, dass die Menschen keinen Schritt vorwärts kommen. Heute wie in alten Zeiten ist in der Welt viel vom Fortschritt die Rede. Dieser Fortschritt der Wissenschaften beruht auf dem Erbe früherer Generationen. Wenn der Zeiger der Uhr um eine Sekunde weiter tickt, dann wird irgendwo auf der Welt wieder ein weiteres Experioment oder eine neue Erfindung gemacht. Nur der Mensch selbst entwickelt sich nicht weiter. Nichts ändert sich an der Sexualität, nichts ändert sich an unseren sonstigen Begierden. Wir regen uns immer noch über nichts auf, wir gehen weiter schnurstracks in die Irre. Die Menschen sind so gewöhnlich wie immer, nur die Maschinen, deren sie sich bedienen, werden immer besser. Denn der Fortschritt beschränkt sich auf die Wissenschaft, die nicht nur neue Maschinen baut, sondern auch Raketen, Atombomben, Wasserstoffbomben… Gewönhliche Menschen, die auf einem Riesenberg mächtiger Maschinen thronen: Das ist die Gefahr, die uns bedroht.

Dōgen Zenji sagt: „Der Mensch folgt seinem beschränkten Geist und schreitet so aus auf den sechs Wegen.“

Wenn davon die Rede ist, dass der Mensch in den sechs Welten herumwandert, bezieht sich das nicht auf die Wiedergeburt nach dem Tod. Nein, mit seinem großen Mund frisst der Mensch schon in diesem Leben sein Essen von sechs verschiedenen Tellern. Das bedeutet es, auf den sechs Wegen auszuschreiten.

Es wird höchste Zeit, erwachsen zu werden

Vor zwei oder drei Jahren, als viel von Wasserstoff- und Atombomben die Rede war, schrieb der Naturwissenschaftler Tsuji Jirō in einer Zeitschrift: „Die unschuldigen Kinder stießen in das Innere der Höhle vor, die ihre Vorfahren vor langer Zeit gegraben haben. Ganz innen, am Ende der Höhle, fanden sie eine schwere Truhe, und als sie sie ihr Schloss aufbrachen fanden sie darin die Produkte des wissenschaftlichen Fortschritts: Atom- und Wasserstoffbombe.“

Er spricht von unschuldigen Kindern. Die unschuldigen, unwissenden Kinder sind auf die Waffen gestoßen, die ihnen ihre Vorfahren vererbt haben. Auf der einen Seite die Sowjetunion, auf der anderen Amerika. Unwissende Kinder, die mit monströsen Waffen um sich schwingen. Und wenn sich einer dazwischen stellen wollte, um sie vor der Gefahr zu warnen, wäre er der Erste, der eins drauf bekommt. Japan, das selbst über keine Atom- oder Wasserstoffbomben verfügt, bleibt nichts anderes übrig, als sich in einer Ecke ganz klein zu machen.
Tsuji sagt, dass der einzige Ausweg darin besteht, dass die Menschen endlich erwachsen werden. Nicht allmählich, jetzt sofort!

Was bedeutet es, erwachsen zu werden? Es bedeutet, über eine Religion zu verfügen. Aber was bedeutet es, über eine Religion zu verfügen? Die Leute glauben, dass sich jede Religion und jede Glaubensrichtung unterscheidet. Doch wenn es innerhalb der Buddhalehre wirklich verschiedene Glaubensrichtungen gäbe, dann wäre das nicht mehr die wahre Buddhalehre. Wer den Namen Buddhas anruft, ruft einfach ganz den Namen Buddhas an. Wer Zazen praktiziert, praktiziert ganz Zazen. Wer die Sutren liest, liest die Sutren. 100%, ohne Vergleich: Das ist die Buddhalehre.

Als ich in Kumamoto lebte unterrichtete der Prof. Omodaka, ein Experte für das Man’yōshū und zehn Jahre jünger als ich, noch Japanisch am fünften Gymnasium von Kumamoto. Später wurde er Professor an der Universität Kyōto, aber damals war er noch 29 und ich 39 Jahre alt. Er hörte gerne meinen Vorträgen zu und lud mich auch häufig zu sich nach hause ein, um mit seinen Schülern Zazen zu sitzen. Auch nach dem er nach Kyōto zog lud er mich immer wieder für wöchentliche Zazen-Kurse ein.

Als dieser Prof. Omodaka einmal durch eine Hintergasse Kumamotos ging, sah er einen buddhistischen Priester in einem Haus, der sich selbst befächelte während er irgendein Sutra herunterleierte: „Ich nehme Zuflucht zum Tathagata des unendlichen Lebens, Heil dem wundervollen Licht!“ Der Mann, der ihn in sein Haus eingeladen hatte und für die Zeremonie bezahlte, schlief im Hintergrund. Prof. Omodaka drückte das so aus: „Ein Überflüssiger verlässt sich auf den anderen.“

Für einen buddhistischen Priester sollte es Teil der religiösen Praxis sein, die Sutren zu lesen. Leider ist daraus ein Gelderwerb geworden. Das liegt zum Teil auch an den Gläubigen, die die Priester ständig auffordern, Zeremonien für sie abzuhalten. Nichts ist dagegen einzuwenden wenn die Gläubigen führ ihre Praxis mit Spenden belohnen. Das einer 10.000 Yen oder sogar 100.000 Yen dafuer bezahlt, dass ihm ein Priester kurz das Gatha vom wahren Glauben liest, dagegen habe ich gar nichts. Im Gegenteil: Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass ein kurzes Sutra mit weniger Geld belohnt wird, während man für ein langes Sutra tiefer in die Tasche greifen muss. Denn dann wird aus der Rezitation ein Gelderwerb.

Mir persönlich käme es gar nicht in den Sinn, für Geld die Sutren zu lesen. Da praktiziere ich lieber Zazen. Das hat nur den Nachteil, dass mir dafür niemand Geld gibt. Aber gegen meine Gewohnheiten komme ich einfach nicht an…

Gewöhnlich liest ein Priester die Sutren nicht in einem Haus allein, sondern in zehn oder 15, eins nach dem anderen. Da es ihm mit dem Sutra ohnehin nicht so wichtig ist, wird sich der Priester nicht ganz durchschwitzen wollen oder solange rezitieren, bis er halb die Stimme verloren hat. Also ist es schon verständlich, wenn er beim Lesen der Sutren einen Fächer benutzt.

Anders für den Gläubigen. Der bekommt nicht jeden Tag die Sutren vorgelesen, er wird auch nicht bezahlt dafür, sich das anhören. Ihm geht es darum, den Vorfahren zu gedenken, oder einem verstorbenen Kind, oder den Eltern. Deshalb sollte er an dem Tag, an dem der Priester kommt, schon in eine gewisse religiöse Stimmung kommen. Auch er nimmt das Ganze nicht so ernst. Nur das Geld steckt er in einen Umschlag, wie es sich gehört, dann trinkt er erstmal einen Becher Schaps. Denn wer will sich so eine Rezitation verkrampft anhören? Und am Ende der Rezitation, wenn der Priester mit der Glocke bimmelt, wacht er aus seinem Schlummer auf und bedankt sich beim Priester für dessen Arbeit. In den Worten Prof. Omodakas: „Ein Überflüssiger verlässt sich auf den anderen.“

Nichts in der Welt darf überflüssig sein

Bei der Religion besteht immer die Gefahr, dass sich ein Überflüssiger auf den anderen verlässt. Das gilt für die Priester genauso wie für die Gläubigen. Meistens geht es dabei gar nicht um Religion: Die Zeremonien werden als eine Art von Geselligkeit, als ein Familientreffen ohne jede religiöse Bedeutung verstanden. Mir geht es darum, alles Überflüssige aus der Religion zu entfernen. Wenn man von den Überflüssigkeiten absieht, lehren alle Glaubensrichtungen das selbe. Wenn man sich allerdings auf das Überflüssige – sei es „einfache Praxis“ oder „die andere Kraft“ oder was auch immer – versteift, dann ist es keine echte Religion mehr. Wenn Tsuji fordert, dass die Menschen erwachsen werden müssen, dann bedeutet das für die Religionen nur eines: Sie müssen sich vom Überflüssigen trennen.

Das alte Testament spricht von der Erschaffung des Menschen nach dem Bild Gottes. Eine gute Maxime: Forme den Menschen nach dem Ebenbild Gottes. Dōgen Zenji spricht von der Buddhapraxis innerhalb des Lebenswandels (jap. Gyobutsu-iigi). Das bedeutet, so zu leben wie ein Buddha. Deshalb hat es nichts mit Religion zu tun, zu sagen: „Ich glaube an das, aber du sagst dies.“

Es kommt nicht darauf an, was die Leute sagen, es kommt darauf an, was wir tun. Irgendjemand sagte einmal, dass verschiedene Religionen so wie verschiedene Währungen sind. Heute wissen das wohl nur noch die ganz Alten, oder vielleicht ein paar Wirtschaftshistoriker: Selbst innerhalb Japans hatte früher jede kleine Provinz ihre eigene Währung. Hier in der Stadt Ono wurde Geld gedruckt, das außerhalb der Stadt keinen Wert hatte. Ich komme aus einer armen Familie in Tsu, aus der Ise-Region. Da gab es die Kleinprovinz Todo, die auch ihre eigene Währung hatte, die jeglichen Wert verlor, wenn man sie über die Provinzgrenze mitnahm.

Auch heute höre ich noch: Bei euch mag es so sein, bei uns ist es anders. Unser Geistesfrieden, unser Satori, unser gläubiges Herz hat mit dem euren nichts zu tun. Es ist ein großer Irrtum, wenn sich Religionen so aufspielen wie die Währung einer Kleinprovinz, die nur innerhalb der eigenen, engen Grenzen verständlich ist. Für einen Schüler Shakyamuni Buddhas darf es nur eine Wirklichkeit geben, die überall gültig ist. In dieser einen Wirklichkeit gibt es kein einziges Ding, das überflüssig wäre: Keine Privatangelegenheiten.

Großmeister Sōsan sprach vom formlosen Körper klarer und allumfassender Wachheitsnatur (Jap. Kakushō-enmyō-musō-no-shin). Schöne Worte. Aber auf die Worte kommt es nicht an, sondern auf den Inhalt: Der formlose Körper klarer und allumfassender Wachheitsnatur. Die gemeinsame Wurzel, aus der Himmel und Erde und ich entspringen. Die alten Meister sprechen auch von der Einheit des Selbst mit den zehntausend Dingen.

Dōgen Zenji verwendet den Ausdruck „stinkender Fleischsack“. Wir sind alle stinkende Fleischsäcke. Ich merke das selbst: Im Alter fange ich an, mehr und mehr zu stinken. Es wäre eine Verschwendung des Lebens, wenn sich alles nur um diesen stinkenden Fleischsack dreht. Den Buddhaweg zu praktizieren bedeutet, diesen Leib auf eine kosmische Weise zu verwenden, auf eine Weise, die über Raum und Zeit hinausgeht: Als den formlosen Körper klarer und allumfassender Wachheitsnatur.

Woher kommt dieser individuelle Leib?

Wir haben ein Ego, und damit fängt das Schlamassel an. Denn unser Ego trennt diesen Fleischsack von dem nächsten. Es gab eine Zeit, als Männer und Frauen noch nicht verschieden waren. Natürlich gab es da auch keine Armen und keine Reichen. Man musste auch nicht essen, um zu leben. Das behauptet wenigstens eines der Sutren, das Sutra vom „Grund, aus dem die Welt entstand“ (jap. Kisei-in-honkyō). In diesem Sutra hatten es die Menschen noch nicht nötig, zu essen. Sie brauchten auch ihre Taschenlampen noch nicht, sie brauchten noch nicht einmal Sonnenlicht. Da gab es weder arm noch reich, keine Männer und keine Frauen. Sie lebten wie die Götter.

Da kam eines Tages einer auf die Idee, ein bisschen vom Erdboden zu probieren. Und es heißt, der Erdboden habe so gut geschmeckt wie ein Reiskuchen. Das war fast so wie mit der Menschheit heute, die Atom- und Wasserstoffbomben erfunden hat und ganz begeistert ist darüber: „Lecker, lecker! Mehr davon!“

Und als alle anfingen zu essen, wurden sie plötzlich auch sehr durstig. Da probierte einer das Wasser aus einem Tümpel, und es heißt, es habe geschmeckt wie himmlischer Nektar. Und wieder ging es los: „Lecker, lecker!“ Nachdem der Mensch feste und flüssige Nahrung zu sich genommen hatte, fing es an in seinem Inneren zu rumoren. Und bevor er sich versah, öffnete sich sein Hinterteil und es stank. Und die Flüssigkeiten kamen vorne wieder heraus. Auf der Vorderseite gab es dann zwei verschiedene Varianten. Die einen hatten da einen kleinen Schlauch, das war sehr praktisch. Die anderen hatten den Schlauch nicht, die mussten sich zum Pinkeln hinhocken.

Und so wie es zwischen elektrischen und magnetischen Polen eine Anziehung gibt, gab es auch hier eine Anziehung: Der Schlauch auf der einen Seite schien genau zu passen an der Stelle, wo bei den anderen kein Schlauch war: „Ah, wie das kitzelt, oh, mehr, mehr!“ Und so ging es tiefer und tiefer. Und dann… na, ihr wisst schon. Und die, die keinen Schlauch hatten, die bekamen einen großen Bauch und dann wurde ein Baby geboren.

Plötzlich schmeckte der Erdboden nicht mehr gut genug, da fingen die Menschen an, wilde Reis- und Weizengräser zu essen. Deren Samen hatten noch keine feste Schale, es reichte deshalb, die Pflanzen frisch zu ernten und gut zu kauen. Und alle bauten sich ihren eigenen Unterschlupf, damit sie in Ruhe den Schlauch einführen können. Bald fing jeder an, Proviant im eigenen Unterschlupf zu horten. Auf diese Weise erfand der Mensch seine Gier.

Mit der Entwicklung der Gier wuchsen die individuellen Vorräte, doch die Reiskörner begannen, von einer festen Schale überwachsen zu sein. Also musste der Mensch Wege finden, den Reis aus seiner Schale zu stampfen und zu dreschen. Je grösser die Gier wurde, desto erfinderischer wurde der Mensch. Er beschloss, das Land zu bestellen um die Ernte zu erhöhen. Dazu musste er den Reis jedes Jahr neu aussähen. Alles war plötzlich mit Arbeit verbunden.

Da kam es vor, dass einer den Reis schnitt den ein anderer ausgepflanzt hatte: Die Erfindung des Diebstahls! Und dabei lässt es sich nicht bewenden: „Hey, was machst du mit meinem Reis!?“, erbost sich der eine. Der andere erwidert: „Wieso, haben wir denn nicht seit alters her diesen Reis gegessen?“ Und wieder der erste: „Für wie blöd hälst du mich eigentlich?“ Und auf diese Weise wurde der Streit zwischen den Menschen erfunden.

Nach der Erfindung des Diebstahls und des Streites musste natürlich als nächstes die Wachmannschaft erfunden werden. Und mit der Wachmannschaft kamen wieder andere, die noch stärker waren. So wurde Mord und Todschlag erfunden. Die Wachmannschaften schlossen sich zusammen zu Banden und Armeen und nannten sich „Polizei“, „Schutzkorps“, „Wehrmacht“ oder wie auch immer. Und dann war auf einmal alles so wie heute: „Rück dein Geld raus und ich werde dich beschützen.“

So wie auch im Christentum Mann und Frau nicht von Anfang an getrennt waren, sieht auch dieses Sutra den „Grund, aus dem die Welt entstand“ als eine grundsätzliche Einheit. Unser Problem ist, dass wir diesen formlosen Körper klarer und allumfassender Wachheitsnatur als das Eigentum unseres individuellen Egos betrachten.

Die ewige Illusion: Ich…

Gachi ist die Ignoranz. Du weißt nicht, warum du geboren wurdest. Bevor du dir der Sache bewusst warst, wurdest du hinaus geworfen in die Welt. Dein Leben ist ziellos, wie eine lange Irrfahrt durch die Nacht. Du weißt nichts, und selbst das was du nicht. Deshalb ist diese Ignoranz so heimtückisch.

Gaken ist deine eigene Meinung. Du hälst dich für schlau. Jeder von uns glaubt an seinen Verstand, an sein persönliches Urteil. So fängt der Streit an.

Gaman ist der Vergleich mit den anderen: Wer von uns beiden ist der Bessere? Das ist auch der Grund, weshalb Sport heute so populär ist. Die Komazawa Universität hat ein Baseballfeld, das so hell beleuchtet ist, dass die Studenten im Wohnheim nebenan nicht das Licht einschalten müssen, um Bücher zu lesen. Die ganze Nacht durch bleibt das Flutlicht angeschaltet. Gewöhnliche Menschen machen ein schläfriges Gesicht, wenn es nicht um Sieg oder Niederlage geht. Sport selbst ist nichts Schlechtes. Es liegt nur in der Natur des Menschen, dass er sich ständig reckt und wissen will, wer denn jetzt der Grössere ist. Aber das ist kindisch.

Shakyamuni Buddha sagte: „Die ganze Welt ist meine Existenz, und die leidenden Wesen darin sind alle meine Kinder.“

Shakyamuni Buddha geht es nicht um Gewinn und Verlust. Amithaba Buddha spricht vom Licht, das das ganze Universum ungehindert erleuchtet. Er sagt auch: Grenzenloses Leben. Wie gesagt muss es uns darum gehen, den Menschen nach dem Ebenbild Gottes zu erschaffen. Dafür ist es wichtig, besseres zu tun als mit den anderen zu vergleichen, wer es ein paar Zentimeter höher oder weiter schafft. Das Kriterium muss bei Shakamuni oder Amithaba liegen.

Ich habe mal ein Photo von einem riesigen Sumo-Ringer gesehen, der nach einem verlorenen Kampf anfing zu weinen. Schade um das viele Fett! Wen interessieren schon Sieg oder Niederlage? Wenn du verlierst, verliere einfach. Als Ryōkan  von einem Verwandten, dem Haus und Hof abgebrannt waren, um Rat gefragt wurde, wie er dem Unglück entfliehen könne, meinte Ryōkan: „Im Unglück sollst du unglücklich sein, wenn du stirbst, musst du einfach nur sterben. Auf diese Weise kannst du jedem Unglück entkommen.“ Wie kindisch es doch ist, sich da über Sieg oder Niederlage aufzuregen.

Am Schluss kommt Gaai, die Selbstliebe. Du magst dich selbst am allerliebsten. Für dich ist nicht alles gleich: Nein, das hier, du selbst, ist das Allerwichtigste.

Jeder von uns füllt das ganze Universum aus

Das, was das ganze Universum ausfüllt – groß und weit, unbefleckt und ohne Grenzen – wird der formlose Körper klarer und allumfassender Wachheitsnatur genannt. Das bedeutet zum einen den Körper Buddhas, aber gleichzeitig auch jeden einzelnen von uns, der wahren Glauben findet. Die Frage ist nur, ob wirklich jeder von uns diesen Körper finden kann, oder nicht?

Und die Antwort ist: Ja, jeder kann sich diesen Körper zu eigen machen, und zwar jetzt, in diesem Augenblick. Das bedeutet es, den Menschen nach dem Ebenbild Buddhas zu erschaffen. Dabei kommt es auf die genaue Form an. Versuche zum Beispiel einmal, die Hände in Gasshoō zusammenzulegen und dich dabei mit jemandem zu streiten. Am Besten indem du dabei noch den Namen Amithaba Buddhas anrufst, oder das Daihi-shin-darani rezitierst. Ist es nicht komisch? Mit Händen in Gassho gelingt dir kein Streit.

Takayama Chogyū sagte: „Wir müssen über die gegenwärtige Zeit hinausblicken.“ Das bedeutet, dass wir über genug inneren Spielraum verfügen müssen, um einen Überblick über die Zeit selbst zu gewinnen. Kein Wunder, wenn innerhalb der gegenwärtigen Zeit nur darum gestritten wird, wer die grössten Nüsschen hat.

Um diesen Streiterein zu entrinnen gibt es nur eines: Wir müssen endlich erwachsen werden. Kinder streiten sich. Die Eltern sehen zu: „Was ist das heute wieder für ein Heidentheater!“ Wenn sich die Kinder streiten, müssen wir den Standpunkt eines Vaters einnehmen. Wie sähe beispielsweise der Streit zwischen Amerika und der Sowjetunion aus dem Blickwinkel Gottes oder Buddhas aus? Was wir brauchen ist ein innerer Spielraum, der groß genug ist, um die Dinge von einer hohen Warte aus zu betrachten. Das Beste wäre es allerdings, wenn ich den Generalsekretär der KPdSU und den amerikanischen Präsidenten dazu bringen könnte, sich zusammen hinzusetzen zum Zazen. Dann würde ich mit dem Kyōsaku herumgehen und rufen: „Hoppla, streckt die Wirbelsäule!“

Du musst bei dir selbst anfangen. Es geht um dich. Oft sagen die Menschen dummes Zeug wie: „Wart’s nur ab!“ Oder: „Irgendwann werd‘ ich’s dir noch zeigen!“ In Wirklichkeit geht es nur um diesen einen Moment, hier und jetzt. Wer weiß, vielleicht bin ich morgen früh schon tot. Keiner von uns kann sich so sicher sein, dass er morgen noch einmal die Sonne aufgehen sieht.

Du musst noch nicht einmal bis morgen warten. Der Buddhismus lehrt, dass während des Zeitraums, der beim Schnippsen der Finger verstreicht, das Universum 65 mal entsteht und wieder vergeht. Dieser Zeitraum wird ein Ksana genannt. Während ich jetzt mit den Fingern schnippse, verstreichen 65 Ksana. In jedem einzelnen dieser Ksana-Augenblicke sterben wir und werden neu geboren. Kein Wunder also, dass wir nicht wissen, wann wir sterben werden. Ich bin jetzt achtzig, da ist es mir nicht mehr so wichtig, wann und wo ich sterbe. Ich tue was ich will, sage was ich will und werde dafür noch gefüttert – was will ich mehr?

Nukariya Kaiten verstand sich auf das Sterben: Er starb während eines Vortrags. Wenn ich im Bett einer Geliebten stürbe, dann würde das meinem Ruf schon sehr schaden. Andererseits: Wer würde wirklich glauben, dass ich mit achtzig noch eine Geliebte hatte? Wie dem auch sei, ich habe keine Ahnung, wann und wo es mich erwischen wird.

Feuerpause!

Grossmeister Tōzan fordert uns auf, die Dinge vom Standpunkt des Todes aus zu überdenken. Wenn wir vom Tod aus über die Dinge nachdenken, dann denken wir mit dem formlosen Körper klarer und allumfassender Wachheitsnatur. Zu Streitereien kommt es dagegen, wenn wir über die Dinge nachdenken während wir mit Händen und Füsen um uns schlagend durch das Leben hindurch geschleift werden. Wer vom Tod aus über das Leben nachdenkt, wird keinen Fehler machen. Da wir aber nicht so einfach sterben können, praktizieren wir statt dessen Zazen. Zazen ist keine Arbeit. Zazen bedeutet, sich aus der Welt der Menschen zu verabschieden.

Die Menschen wollen sich alles mit dem Abakus ausrechnen. Es geht um Rang und Namen und anderes, überflüssiges Zeug. Karriere. Manche verwenden ihr Hirn und ihren Leib nur zum Kalkulieren, wie sie so schnell wie möglich ins Parlament gewählt werden können. Als nächstes wollen sie ins Kabinett aufgenommen werden, und dann müssen sie Premierminister werden. Dann wendet sich der Spieß für die Armen: Wenn sie sich endlich am Ziel ihrer Träume wägen, fangen die Journalisten an, in ihrem Privatleben herumzukramen. Wieviel hat die Villa am See gekostet? Woher kam das ganze Geld? Erst kocht es nur in der Gerüchteküche, dann tauchen immer mehr Information auf, genaue Zahlen werden recherchiert. Macht das wirklich soviel Spaß, wenn die Leute über einen herfahren? Offenbar, den trotz allem wollen sie sich nicht von Amt und Würden trennen, hängen daran als ginge es um ihr Leben selbst. Sehr seltsam.

Wir machen uns unseren Stress selber. Wir laufen um die Wette, strecken uns, um zu sehen, wer der Längste ist. Wir müssen uns von diesem Wettbewerb verabschieden, eine Pause einlegen. Das nenne ich Sterben, oder mit anderen Worten: Zazen, Feuerpause! Wir leben unser Leben so, als kämpften wir an forderster Front, das Maschinengewehr immer auf den Feind gerichtet: Rattatata…! Jetzt stell dir vor, eine Trompete gäbe das Signal: Stellt das Feuer ein, Feuerpause!

Im echten Krieg hörte man natürlich keine Trompeten blasen. Aber auf dem Truppenübungsplatz oder beim Manöver, da war das wirklich so. Einmal war ich bei einer Übung in Shizuoka dabei, da waren wir auf einem weiten Feld vom „Feind“ umgeben. Ich fing bereits an, mir Sorgen zu machen, dass wir in Kriegsgefangenschaft kämen. Idiotisch, nicht wahr? Aber selbst beim Manöver kommt es vor, dass man als Kriegsgefangener behandelt wird. Als ich gar nicht mehr aus und ein wusste, hörte ich plötzlich die Trompete blasen und alles war vorbei: Wir schulterten unserer Gewehre und marschierten zurück ins Lager.

Das Leben lässt sich nicht so einfach meistern. Doch wenn wir unsere ganze Enerige darauf verwenden, es den anderen noch schwerer zu machen als uns selbst, kein Wunder dass die ganze Welt eine Neurose bekommt. Religiöse Praxis – egal ob es sich um Zazen oder Anrufung Buddhas oder Rezitation der Sutren oder Verbeugungen oder was auch immer handelt – muss wie eine Feuerpause im Leben sein.

Die Menschen stellen sich nach Rang geordnet auf, und dann wird abgezählt: Eins, zwei, drei, vier… Ich stehe ganz vorne in der ersten Reihe, du ganz hinten, der achte von links. Doch wenn es heisst: „Wegtreten!“ – dann löst sich die Rangordnung auf. Es kommt darauf an, dich nach dem Ebenbild Buddhas zu erschaffen. Allerdings versteht das keiner von uns selbst. Du verstehst nicht, wie erhaben das ist, wie ein Buddha zu leben. Du verstehst es nicht, wenn es um dich selbst geht, aber wie sieht es in den Augen eines anderen aus?

Das Ereignis, das den Lauf meines Leben bestimmte

Ich kann mich heute noch genau daran erinnern, wie ich in der Nacht des 10. Juni 1896 aus dem Haus meiner Adoptiveltern in Ise weglief. Ein Priester in einem Tempel der Shin-Schule gab mir drei Kilo Reis mit auf den Weg, den ich auf der Reise roh kaute. Von Ise ging es zunächst nach Kuwana, von dort nachts mit dem Boot nach Ōgaki, wo ich an Land ging und bis zur Jizō-Statue in Kinomoto wanderte. Da war es bereits 10 Uhr nachts, und ich konnte kaum noch gehen. Ich wartete bis zum Morgengrauen, dann ging es weiter über den Yanagigase- und Tochinoki-Pass hinunter nach Imajō, wo ich wieder bei einer Jizō-Statue nächtigte. Als nächstes wurde ich vom Regen geweckt. Mir ging es um mein Leben, da konnte mich auch der Regen nicht mehr aufhalten. Am nächsten Tag brach ich zum Eiheiji auf. Als ich Fukui erreichte, ging die Sonne unter, und als ich in die Berge kam, war es bereits stockdunkel. Da ich mir mein Geld damit verdient hatte, Papierlaternen zu reparieren, hatte ich mir für meine Reise eine Odawara-Laterne mitgenommen. Der Shin-Priester, von dem ich auch den Reis hatte, gab mir dafür zwei Kerzen mit, und Streichhölzer hatte ich in der Tasche, allerdings ganz nass. Mit meiner letzten Hoffnung rieb ich alle Streichhölzer zusammen an, und mit einem Zischen entfachten sie sich! Ich steckte die Kerze an und lief weiter über den nächsten Pass bis hin zum Eiheiji, das waren noch drei Kilometer.

Später wurde ich vom Eiheiji in den Ryūunji geschickt, der in der Sakai-Provins liegt. Ich sollte während O-Bon aushelfen, den Feiertagen im Sommer zum Gedenken der verstorbenen Ahnen. Auf der Leiter stand ich natürlich ganz unten, an letzter Stelle. Ich hatte noch nicht einmal ein richtiges Mönchsgewand. Die Nonne im Hakujuan, einem kleinen Tempel vor dem Tor des Eiheiji, hatte mir etwas zusammen genäht. Das sah so aus, als hätte sie ein Gewand, das irgendein Wandermönch am Wegesrand weggeschmissen hat, mit Putzlappen ausgeflickt. Meine Güte, war der Stoff dick und schwer… und das in der Sommerhitze! Meine Aufgabe war es, bei der Zeremonie dem Priester im Tempel mit einem großen Fächer von hinten kühlen Wind zu zu wehen. Und als ich mit großer Stimme bei der Rezitation des Sutras mitmachte, schrie er wütend: „Was brüllst du so? Sutren rezitiert man nicht so laut!“ Danach murmelte ich nur noch vor mich hin.

Nach dem die Zeremonien vorbei waren nahm der Gemeindevorsteher Mönche, die aus dem Eiheiji zum Aushelfen gekommen waren, mit auf eine Erholungsreise. Ich glaube es ging nach Mikuni. Aber als der jüngste und geringste unter den Mönchen war ich es nicht wert, mit auf die Reise genommen zu werden: „Du kannst hier bleiben und dich ausruhen!“

Also blieb ich mit der alten Köchin zurück, um Tabletts und Schalen mit trockenen Tüchern zu wischen und wegzuräumen. Diese Alte befahl mir gewöhnlich Wasser zu holen oder den Boden zu wischen, oder motzte mich an, wenn ich die Wischlappen nicht richtig auswrang. Nur an diesem Tag sagte sie mir, dass ich einfach tun solle, was mir Spaß macht. Da ich es aber nie leicht gehabt hatte, nach dem meine leiblichen Eltern gestorben waren, wusste ich gar nicht, was das heißt: „Spaß haben“. Selbst heute weiß ich nicht so genau, was damit eigentlich gemeint ist. Also wusste ich nichts mit mir – mit diesem Leib – anzufangen, als mir gesagt wurde, ich solle tun, was mir Spaß macht. Im Eiheiji hatte man mir beigebracht, wie man Zazen macht, und ich beschloss, bei dieser Gelegenheit einfach ein bisschen zu sitzen. Ich platzierte meinen Hintern auf ein Kissen und setzte mich in Zazen.

Plötzlich marschierte die Alte in den Raum, um ein paar Schalen im Wandschrank zu verstauen. Wahrscheinlich hatte sie geglaubt, dass ich, dieser kleine Mönch, sich irgendwo in einem Hinterzimmer verkrochen hat, um einen Mittagsschlaf zu halten. Da riss sie den Mund auf vor Überrschung, als sie mich mitten im Raum in Zazen sitzen sah. Sie faltete die Hände und betete mich an, fast so, als sei ich der Buddha Shakyamuni persönlich.

Das bestimmte die Richtung meines Lebens. Ich wusste doch gar nichts über die Theorie des Zazen, da war auch niemand gewesen, den ich hätte fragen können. Und trotzdem verbeugte sich diese Alte so ehrfurchtssam vor mir, als wäre ich ein Buddha. Warum? Mir kam es vor wie ein Wunder. Aus welchem Grund auch immer, ich wusste wirklich nicht wieso, verbeugte sich vor meinen Augen diese alte Frau. Ich beschloss, dass ich Zazen für den Rest meines Lebens praktizieren werde. Und wenn ich selbst heute noch das ganze Land bereise, um Vorträge zu halten, dann tue ich das nur für Zazen. Auch meinen Posten an der Komazawa-Universität habe ich nur, um Zazen zu lehren.

Wenn du sitzt, bist du Buddha

Probieren geht über Studieren, der praktische Beweis zählt mehr als jede Theorie. Ich saß in Zazen und wurde verehrt wie ein Buddha. Warum, das wusste ich nicht. Es ist auch nicht nötig zu wissen, weshalb das so funktioniert. In einem Buch mit dem Titel „Geschichten von schrägen Vögeln der Neuzeit“ (jap. Kinsei-kijinden) heißt es: „Ein echter schräger Vogel hat nicht die geringste Ahnung davon, dass er ein schräger Vogel ist. Er glaubt, dass er der normalste Mensch der Welt ist. Nur in den Augen der anderen erscheint er als ein schräger Vogel.“

Zazen ist erhaben, Zazen ist Satori, Zazen ist das Leben Buddhas – aber davon merkst du selbst nichts. Du merkst es nicht, aber in den Augen der anderen erscheinst du als Buddha. Sie verehren dich so, als wärst du der Buddha persönlich.

Irgendwann wurde ich einmal von einem Reporter gefragt, was mit uns passiert, wenn wir Zazen praktizieren. Meine Antwort war: „Wenn du sitzt, bist du Buddha!“ Der Reporter, der bis dahin immer nur „hm, hm, ich verstehe“ gesagt hatte, rief erschrocken aus: „Nein, das meinen Sie doch nicht ernst!“

Wenn du jemandem etwas wegnimmst, bist du ein Dieb. Im selben Augenblick bist du ein Dieb. Du musst nicht warten, bis dich die Polizei erwischt, du vor’s Gericht gestellt wirst und der Richter dich verurteilt. Wer stiehlt ist ein Dieb. Und das selbe gilt auch für Zazen. Vorhin nannte ich das die Erschaffung des Menschen nach dem Ebenbild Buddhas. Zazen ist groß und weit, der Körper Buddhas füllt das ganze Universum.

Der Reporter fragte mich auch, ob es nicht umöglich sei, den Buddhadharma zu lehren, ohne in einem Tempel zu wohnen. Wieso? Dōgen Zenji sagte, dass – egal an welchem Ort unter oder über dem Himmel du dich befindest – genau an der Stelle, wo du gerade bist, ewiger Friede (jap. Eihei) zu finden sei. Wo immer du Zazen übst, findest du ewigen Frieden. Für mich ist deshalb jeder Ort ein Ort des Weges, auch wenn ich nicht in einem Tempel wohne. Wo ich bin, ist ewiger Frieden. Dōgen Zenji spricht auch vom „Berg des Glücks“: Alle Buddhas versammeln sich an diesem Ort, deshalb ist dieser Ort der Ort höchsten Glücks. Wo immer wir sitzen, wir sitzen auf dem Berg des Glücks, wir sitzen im reinen Land des Buddha Amithaba. Das gilt für jeden Ort, wo hin mich meine Reisen auch führen.

Früher haben wir hier am Morgen vor dem Vortrag auch zusammen Zazen geübt, aber dieses Mal ist das leider nicht möglich, weil ich heute morgen erst vom Daijōji in Kamazawa aufgebrochen bin, und morgen in Fukui wieder einen Vortrag halten muss. Mein Besuch hier ist eingequetscht zwischen diese anderen Termine, da fehlt mir die Zeit. Morgen, nach dem Vortrag in Fukui, geht es dann gleich weiter nach Kyoto. Schwerstarbeit für meinen alten Leib, aber das lässt sich nicht ändern. Ich fühle mich wie ein Esel, dem man zu seiner Last immer noch ein kleines Extra-Paket aufbürdet.

Erschaffe den Menschen nach dem Ebenbild Buddhas, ohne dir Gedanken darüber zu machen, wie gut du dabei aussieht. Im Dōshin-Kapitel des Shōbōgenzō fordert uns Dōgen Zenji auf, das Kesa-Gewand anzulegen und in Zazen zu sitzen, denn durch das Kesa können wir die Befreiung in drei Leben finden. Damit bezieht er sich auf die Nonne Utpalavarna, die in einem früheren Leben eine Prostituierte gewesen war. Eines Tages legte sie das Kesagewand an, um ihre Kunden mit einem Tanz zu amüsieren. Es heißt, dass sie im nächsten Leben zur Nonne wurde, und in einem folgenden Leben schließlich zu einer Schülerin von Shakyamuni Buddha, unter dem sie die Befreiung als Arhat fand. Deshalb wird von der Befreiung in drei Leben gesprochen, und es heißt auch, dass Zazen über die drei Welten hinaus gehe. Die drei Welten sind die Welt der Begierde, die Welt der Form und die formlose Welt. Alle unsere Illusionen haben ihre Wurzeln in diesen drei Welten. Die Welt der Begierde besteht aus der Hölle, den hungrigen Geistern, Tieren, kämpfenden Dämonen, Menschen und HImmelswesen. Die Welt der Form und die formlose Welt liegen darüber. Solange wir unsere Illsuionen nicht entwurzeln, befinden wir uns in den drei Welten. Zazen ist keine Lehre der drei Welten. Es ist die Lehre der Buddhas und Patriarchen, die über die drei Welten hinausgeht. So wie ein Dieb nicht der Lehre eines Rechtschaffenden folgt, sondern der Lehre der Diebe.

Das Geheimnis der Religion liegt in der Verbeugung

Ein andere wichtige Praxis ist die Verbeugung. Unter dem Titel „Verbeugung“ (jap. Raihai) hat Dōgen Zenji ein Gedicht verfasst:

„Das Wintergras ist nicht zu sehen/Auf der schneebedeckten Flur/Ein Reiher verbirgt sich/In seiner eigenen Gestalt“

Ein weißer Reiher auf weißen Grund ist genauso wenig zu sehen wie das Wintergras unter dem Schnee. Nahtlos verbunden mit allem. Sich zu verbeugen ist eine wunderbare Sache: Das Geheimnis des Buddhismus liegt hier verborgen. Insofern unterscheidet sich eine Verbeugung auf keinste Weise vom Zazen. Wer sich verbeugt legt sich auch zum Schlafen nieder, wer Zazen praktiziert rechnet auch mit dem Abakus, denn alles im Universum ist mit einander verbunden. Ich und alle Dinge haben die selbe Wurzel: Große, unbegrenzte Weite. Die Praxis des Buddhismus ist nicht so komliziert. Praxis bedeutet, sich einfach zu verbeugen. Den Namen Buddhas anzurufen ist ebenfalls Praxis. Zazen ist Praxis. Es geht darum, es einfach zu tun.

Der eine fächert sich Wind zu beim halbherzigen Rezitieren der Sutren, während der andere dafür bezahlt und hinter seinem Rücken ein Nickerchen hält: So etwas ist überflüssig. Praxis bedeutet einfach das, was du jetzt tust, ganz zu tun. Wenn du es ganz tust, dann ist alles, wirklich alles was du tust, eins mit Zazen. Gehen ist Zen, Sitzen ist Zen, im Sprechen wie im Schweigen, in der Aktivität wie in der Stille findet dein Körper Ruhe und Frieden.

Den Geist des Glaubens zu haben bedeutet deshalb, mit allem was du tust ganz eins zu sein. Sei eins mit deinem Leben. So einen nennt man einen Buddha, einen Erwachten. Im Shin-Buddhismus spricht man vom leuchtenden Antlitz (jap. Kōgengigi) eines solchen Buddhas.

Wie gesagt: Es wird höchste Zeit, dass wir erwachsen werden. Wir müssen den Buddhaweg in unserem täglichen Leben in die Praxis umsetzen.

(Vortrag gehalten am 20. August 1959, in der Stadt Ōno)