Antaiji

Kloster des Friedens

Die Nacht in der transgalaktischen Eisenbahn
1. Der Nachmittagsunterricht


    „Meine Lieben, wisst Ihr eigentlich, woraus dieses weißlich-trübe Etwas besteht, das von manchen ein Fluss genannt wird, von anderen ein Fleck von verschütteter Milch?“
    Von der Tafel hing eine große schwarze Sternenkarte herab, und der Lehrer hielt seinen Finger auf die Milchstraße gerichtet, die als nebeliger Streifen von oben nach unten verlief.
    Campanella meldete sich. Vier oder fünf andere hielten die Hand ebenfalls hochgestreckt. Auch Giovanni wollte gerade die Hand heben, da überlegte er es sich anders. Er war sich fast sicher, irgendwann einmal in einer Zeitschrift gelesen zu haben, dass das alles Sterne waren. Aber in letzter Zeit fühlte er sich im Klassenzimmer immer nur müde. Er hatte schon lange keine Zeit mehr zum Bücherlesen, und schon gar keine Bücher mehr zum Lesen. Es kam ihm so vor, als verstünde er gar nichts mehr von dem, was vorging.
    Doch der Lehrer hatte ihn nicht übersehen:
    „Giovanni, Du weißt es ebenfalls, stimmt’s?“
    Schwungvoll stand Giovanni auf um zu antworten, aber erst einmal auf den Beinen, verließ ihn wieder der Mut. Sanelli drehte sich auf dem Stuhl vor ihm um und blickte ihn kichernd an. Knallrot im Gesicht wusste Giovanni nicht mehr ein noch aus. Da half ihm der Lehrer noch einmal.
    „Wenn Du die Milchstraße mit einem großen Fernrohr betrachtest, was siehst Du dann?“
    Sterne natürlich, dachte sich Giovanni, doch auch dieses Mal wollte ihm die Antwort nicht über die Lippen. Der Lehrer wartete eine Weile ratlos, dann richtete er sich an Campanella:
    „Campanella, was meinst Du?“
    Doch selbst Campanella, der so selbstbewusst die Hand hochgestreckt hatte, stand plötzlich um Worte ringend da. Verblüfft blickte der Lehrer auch ihn für eine Weile stumm an, um endlich fortzufahren.
    „Nun gut“, sagte er, auf die Karte zeigend, „wenn Ihr diese weiße, neblige Milchstraße mit dem Fernrohr betrachtet, werdet Ihr viele kleine Sterne sehen. Stimmt’s Giovanni?“
    Mit rotem Gesicht nickte Giovanni. Ehe er sich’s versah, kamen ihm die Tränen in die Augen.
    Natürlich wusste ich es, und Campanella weiß es genauso. Denn das habe ich ja zusammen mit Campanella in einer der Zeitschriften seines Vaters gelesen.
    Jetzt erinnerte Giovanni sich auch, dass Campanella dann ein Buch aus der Bibliothek des Vaters geholt hatte, in dem sie eine Photographie der Milchstraße fanden.
    Wie lange hatten wir damals damit zugebracht, die Unzahl der weißen Punkte vor dem pechschwarzen Hintergrund zu bewundern? Als Campanella dem Lehrer seine Antwort schuldig blieb, wird das nicht daran gelegen haben, dass er das vergessen hätte. Nein, es ist Campanella nicht entgangen, dass ich in letzter Zeit sowohl am Morgen als auch am Nachmittag schwer zu arbeiten habe, und selbst wenn ich es bis in die Schule schaffe, fühle ich mich nur noch selten danach, mit den anderen zu spielen. Obwohl ich auch mit Campanella kaum noch spreche, schwieg er vorhin nur aus Rücksicht auf mich!
    Giovanni fühlte sich schlecht für beide, als seine Gedanken zwischen Campanella und ihm hin- und herwanderten.
    Währendessen fuhr der Lehrer fort: „Wenn wir die Milchstraße also tatsächlich als eine Art Strom betrachten, der durch das Firmament fließt, dann wäre jeder einzelne dieser kleinen Sterne so viel wie ein winziger Kieselstein auf dem Grund des Gewässers. Die Metapher der vergossenen Milch ist vielleicht noch besser: Dann entspricht jeder Stern einem der Fettmoleküle, die der Milch ihre weiße Farbe geben. Und was entspricht dem Wasser des Flusses? Das ist das grenzenlose Vakuum, durch das sich das Licht mit einer bestimmten Geschwindigkeit bewegt. Auch die Sonne und Erde befinden sich in diesem Vakuum. Das bedeutet, dass wir ebenfalls im Wasser der Milchstraße wohnen. Und wenn wir innerhalb des Gewässers um uns blicken, dann sehen wir dort am meisten Sterne, wo die Milchstraße am tiefsten reicht. So wie mit Wasser, das desto blauer erscheint, je tiefer es ist, desto weißer ist die Milchstraße an den Stellen, wo sich viele Sterne sammeln. Seht Euch einmal dieses Modell an!“
    Der Lehrer zeigte auf eine große konvexe Linse, in der sich eine Menge glitzernder Sandkörner befand.
    „So sieht unsere Milchstraße aus. Stellt Euch vor, jedes dieser leuchtenden Körner wäre ein eigener Stern, genauso wie unsere Sonne. Und jetzt lasst uns annehmen, dass sich auch die Sonne ungefähr in der Mitte dieser Linse befindet, und unsere Erde gleich nebenan. Wenn ihr nachts nach draußen schaut, werdet ihr wenig Sterne sehen, wo die Linse dünn ist. Schaut ihr aber in die Richtung, wo die Linse dick ist, so seht ihr viele leuchtende Körner, das heißt Sterne, und deshalb erscheint die Milchstraße dort weiss. Das ist die moderne Theorie unserer Galaxie. Wie groß diese Linse in Wirklichkeit ist, und wie viele Sterne sich in ihr befinden, das werdet ihr beim nächsten Mal lernen, denn jetzt sind wir am Ende der Stunde angelangt. Dafür wird heute Nacht das Fest unserer Milchstraße gefeiert, geht alle nach draußen und werft einen guten Blick auf den Himmel! Aber jetzt ist es Zeit die Bücher weg zu räumen.“
    Für eine Weile hörte man das Klappern der Schreibtischfächer, in denen die Schüler ihre Bücher verstauten. Dann standen alle stramm, um mit einer gemeinsamen Verbeugung das Klassenzimmer zu verlassen.

2. In der Druckerei


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