Hitoshi Nagai:
Penetre und ich

1-8 Menschen in Schwierigkeiten soll man nicht helfen

Ich: Wenn einer in Schwierigkeiten steckt, muss man ihm helfen, nicht wahr? Menschen, die leiden, haben doch unsere Unterstützung verdient!
Penetre: Nein. Man sollte Menschen, denen es schlecht geht, nicht allzu sehr helfen. Nur wenn es sich um ein akutes Problem handelt, so wenn einer sich verletzt hat oder sein Portemonnaie verloren hat, ist Hilfe angebracht. Wenn es aber um eine tiefere, schwerere Form des Leidens handelt, musst du dasselbe Leiden ebenso tief und schwer am eigenen Leib erfahren, um dem anderen helfen zu können. Das ist eine Last, die man nicht jederzeit auf sich laden kann. Wenn du es versuchst, kann diese Last dich psychisch zerstören. Nur wenn du in deinem Leben tiefes und schweres Leid gekostet hast, ist es dir möglich, einem anderen zu helfen, der dasselbe Leid erfährt. Denn nur in einem solchen Fall ist es möglich, dem anderen zu helfen, ohne dass er es merkt, dass man ihm helfen will.
Ich: Das klingt ganz schön schwierig!
Penetre: Nein, so schwierig ist das gar nicht… Nur eines darfst du nie vergessen: Du solltest nie das Leid eines anderen dazu missbrauchen, um die Misere des eigenen Lebens auszuloten.

1-9 Lügen darf man, aber Versprechen muss man halten?

Ich: Man sollte nicht lügen oder Versprechen brechen, nicht wahr?
Penetre: Vergiss nicht, dass Lügen etwas ganz anderes ist als ein Versprechen zu brechen! Gewöhnlich gehen wir davon aus, dass wir nicht belogen werden, aber wer verspricht denn von sich aus, dass er nicht lügt? Wenn jemand dagegen ein Versprechen macht, dann geht er eine Verpflichtung ein. Er hätte ja auch darauf verzichten können. Nur wenn man vor Gericht unter Eid aussagt, bedeutet eine Lüge soviel wie ein gebrochenes Versprechen.
Ich: Aber es kommt doch vor, dass man ein Versprechen brechen muss. Zum Beispiel dann, wenn ein dringendes Ereignis das Einhalten des Versprechens unmöglich macht.
Penetre: Selbstverständlich. Aber in dem Fall ist etwas von so großer Wichtigkeit eingetreten, das sich zum Zeitpunkt des Versprechens nicht vorhersehen ließ. Angekommen, Anton verspricht Berta, sie um halb vier vor dem Bahnhof zu treffen. Zu dem Zeitpunkt könnten sie sich auch für vier Uhr verabreden, oder vereinbaren, sich auf dem Bahnsteig zu treffen. Aber selbst dann, wenn sich die beiden aus keinem besonders wichtigen Grund miteinander verabreden, sind sie danach trotzdem daran gebunden. Egal, wie trivial der Grund gewesen sein mag, ein Versprechen ist allein deshalb wichtig, weil es gegeben wurde. Wenn es nur um einen selbst ginge, könnte man die Planung jederzeit ändern. Wenn man sich verabredet hat, geht das nicht. Die andere Person wird ja ebenfalls versuchen, sich an die Verabredung zu halten, selbst wenn sie etwas zu tun hat, das eigentlich wichtiger ist.
Ich: Das heißt, dass man ein Versprechen nicht brechen darf, solange kein wirklicher Notfall eintritt?
Penetre: Es sei denn, es geht dir darum, das Versprechen zu brechen. Denn versprechen kannst du alles mögliche, nur versprechen, dass du diese Versprechen auch hälst, das kannst du nicht. Insofern unterscheidet sich einer, der sich nicht an seine Versprechen hält, nicht von einem Lügner.
Ich: Was?

1-10 Muss man zur Schule gehen?

Ich: Du hast es gut! Katzen müssen nicht zur Schule gehen.
Penetre: Warum glaubst du denn, zur Schule gehen zu müssen?
Ich: Warum? Weil meine Eltern das sagen, und die Lehrer in der Schule auch!
Penetre: Für viele Fragen im Leben gibt es offizielle Antworten, auf die sich die Welt geeinigt hat. Damit die Welt nicht aus den Fugen gerät, ist es notwendig, dass alle an diese Antworten glauben. Wem es gelingt, diese Antworten ohne den geringsten Zweifel zu schlucken, dem wird das Leben in der Welt leicht fallen. Wenn es dir nicht gelingt, solltest du es aber nicht mit Gewalt versuchen.
Ich: Willst du damit sagen, dass man die offiziellen Antworten nicht glauben muss?
Penetre: Alles hat ein Innen und ein Außen. Wenn du es Innen nicht aushältst, gehe nach Außen. Wenn du nicht zur Schule gehen willst, lass es bleiben. Allerdings gibt es keinen Weg, aus der Welt selbst auszutreten, solange du lebst. Letztlich hast du deshalb keine andere Wahl, als die offiziellen Antworten zu schlucken, die die Welt braucht, um die öffentliche Ordnung zu wahren. Zumindest musst du so tun, als ob du an diese Antworten glaubst. Wenn dir selbst das zuwider ist, hast du keine andere Wahl als dich umzubringen beziehungsweise dich töten zu lassen.
Ich: Mich töten lassen?
Penetre: Wenn du beispielsweise nicht akzeptieren willst, dass es sich von selbst versteht, anderen nicht das Leben zu nehmen, und auch nicht so tun willst, als hättest du es akzeptiert, dann kann es durchaus aus sein, dass man dich deswegen umbringt. Die Welt rächt sich an dir, in dem sie deine Grundsätze auf dich selbst anwendet.
Ich: Meinst du die Todesstrafe? Ist die denn notwendig?
Penetre: Nur wenn Gefängnishaft nicht als ein Abschied aus der Welt gilt.