1-8 Menschen in Schwierigkeiten soll man nicht helfen
Ich: Wenn einer in Schwierigkeiten steckt, muss man ihm helfen, nicht wahr? Menschen, die leiden, haben doch unsere Unterstützung verdient!
Penetre: Nein. Man sollte Menschen, denen es schlecht geht, nicht allzu sehr helfen. Nur wenn es sich um ein akutes Problem handelt, so wenn einer sich verletzt hat oder sein Portemonnaie verloren hat, ist Hilfe angebracht. Wenn es aber um eine tiefere, schwerere Form des Leidens handelt, musst du dasselbe Leiden ebenso tief und schwer am eigenen Leib erfahren, um dem anderen helfen zu können. Das ist eine Last, die man nicht jederzeit auf sich laden kann. Wenn du es versuchst, kann diese Last dich psychisch zerstören. Nur wenn du in deinem Leben tiefes und schweres Leid gekostet hast, ist es dir möglich, einem anderen zu helfen, der dasselbe Leid erfährt. Denn nur in einem solchen Fall ist es möglich, dem anderen zu helfen, ohne dass er es merkt, dass man ihm helfen will.
Ich: Das klingt ganz schön schwierig!
Penetre: Nein, so schwierig ist das gar nicht… Nur eines darfst du nie vergessen: Du solltest nie das Leid eines anderen dazu missbrauchen, um die Misere des eigenen Lebens auszuloten.
1-9 Lügen darf man, aber Versprechen muss man halten?
Ich: Man sollte nicht lügen oder Versprechen brechen, nicht wahr?
Penetre: Vergiss nicht, dass Lügen etwas ganz anderes ist als ein Versprechen zu brechen! Gewöhnlich gehen wir davon aus, dass wir nicht belogen werden, aber wer verspricht denn von sich aus, dass er nicht lügt? Wenn jemand dagegen ein Versprechen macht, dann geht er eine Verpflichtung ein. Er hätte ja auch darauf verzichten können. Nur wenn man vor Gericht unter Eid aussagt, bedeutet eine Lüge soviel […]
Ich: Ich könnte mir einen Menschen vorstellen, der so positiv eingestellt ist, dass es ihm Vergnügen bereitet, anderen Schaden zuzufügen. Würdest du einen solchen Menschen einen echten Optimisten nennen?
Penetre: Ich halte es für unwahrscheinlich, dass man einem solchen echten Optimisten begegnen wird, aber unmöglich ist es nicht. Echte Optimisten kümmern sich kaum um Moral. Deshalb macht es ihnen nichts aus, etwas zu tun, was von den Moralisten als schlecht bezeichnet wird. Umgekehrt ist es ein Zeichen des Menschen, dem die positive Grundeinstellung des Optimisten fehlt, dass er an der Moral von Gut und Schlecht festhält.
Ich: Warum das?
Penetre: Weil er nichts anderes hat, was ihm Halt gibt.
Ich: Warum behauptest du dann, dass es zwar nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich ist, dass ein echter Optimist etwas Schlechtes tut?
Penetre: Angekommen, dein Vater bringt dir bei, wie man Schach spielt. Anfangs interessiert dich das Spiel nicht im Geringsten. Deshalb verspricht dir dein Vater ein Taschengeld, wenn du gewinnst. Fortan gibst du beim Schach dein Bestes! Und vielleicht beginnt dir dann irgendwann einmal das Schachspiel selbst Spaß zu machen. Wenn es dir nur ums Taschengeld geht, wirst du wahrscheinlich auch einmal Mogeln. Wenn dein Vater aufs Klo geht, verschiebst du heimlich die Figuren… Wenn dir aber das Spiel selbst Spaß macht, hast du das nicht mehr nötig. Wichtiger als das Gewinnen ist dir dann der Prozess, der zum Gewinn führt. Erst dann ist Schach für dich zum Vergnügen geworden. Genauso kann auch das Leben zum Vergnügen werden. Im Unterschied zum Schach hat das Leben […]
1-6 Die Welt wird von einem Vertrag zusammengehalten (1)
Penetre: Hast du schon einmal vom Gesellschaftsvertrag gehört?
Ich: Was ist das denn?
Penetre: Stelle dir den Zustand der Menschheit vor, bevor es Staaten, Gesetze und Moral gab. Jeder muss nur an sich selbst denken und ist frei, zu tun, was er will. Andererseits weiß keiner, wann einer einem was antun wird. Ständig muss man fürchten, von den anderen verletzt oder sogar getötet zu werden. Für jeden einzelnen stellen die anderen Menschen Feinde dar. In alten Zeiten müssen die Menschen in diesem Zustand gelebt haben.
Ich: Das ist eine schreckliche Welt!
Penetre: Ja, keine Frage! Wie ist es möglich, diesem Zustand, der für alle Angst und Schrecken bedeutete, zu entkommen? Ganz einfach, man muss nur einen Vertrag schließen: Jeder einzelne verspricht, keinem anderen Schäden zuzufügen, wenn man ihm dafür auch keinen Schaden zufügt. Das heißt, dass jeder auf einen Teil seiner Freiheit verzichtet, unter der Bedingung, dass die anderen das Gleiche tun. Denn davon haben am Ende alle mehr. Kurz gesagt ist das der Gesellschaftsvertrag.
Ich: Keine schlechte Idee… So sind also unsere Gesetze entstanden. Aber kann man die Entstehung der Staaten und die Entwicklung der Moral genauso erklären?
Penetre: Zumindest dann, wenn man der Theorie des Gesellschaftsvertrags folgt. Einen Punkt darf man dabei nicht vergessen: Wenn man sich etwas verspricht, dann muss man auch versprechen, das Versprechen zu halten. Und das muss man wiederum versprochen haben… Die Frage […]
Penetre: Hättest du Interesse, einen Lebenssimulator auszuprobieren?
Ich: Was soll das denn sein?
Penetre: Eine Maschine, die dich eine virtuelle Realität erleben lässt! Wenn du dein Gehirn an diesen Simulator anschließt, erlebst du ein Leben, dass sich von deinem bisherigen Leben vollkommen unterscheidet, aber genauso wirklich anfühlt. Dabei besteht die Wahl zwischen allen möglichen virtuellen Leben – so wie bei einer Videothek. Du kannst dir selber aussuchen, was für ein Leben du erleben willst.
Ich: Klingt interessant! Aber gibt es diese Maschine denn wirklich?
Penetre: Gegenwärtig wohl noch nicht. Aber einmal angenommen, es gäbe diese Maschine, würdest du sie ausprobieren?
Ich: Ja, keine Frage!
Penetre: Jeder, der in der Realität mit Leid und Unglück konfrontiert ist, wird sich wünschen, stattdessen lebenslang virtuelles Glück zu erfahren. Auf diese Weise leidet er nicht
Ich: Solche Menschen gibt es bestimmt, aber für mich wäre das nichts. Das ganze Leben bis zum Tod eine falsche Realität vorgespielt bekommen – nein, das will ich nicht!
Penetre: Willst du damit sagen, dass dir dein wirkliches Leben lieber ist, gleich wie leidvoll und grausam die Umstände auch sein mögen? Warum das? Und: Es kann durchaus sein, dass dieses Leben, dass du für die Realität hältst, in Wahrheit das Produkt eines Simulators ist. Oder hast du einen Beweis, dass es nicht so ist? Zumindest kann es keinen Beweis innerhalb deines gegenwärtigen Lebens geben. Trotzdem sagst du, dass dir dein gegenwärtiges Leben wichtig ist. Warum?
Ich: Hmm… ja, warum nur?
Ich: Was würdest zu einem Optimisten sagen, der Vergnügen daran findet, gemein zu anderen zu sein? Der hat doch keine Klasse! Denkst du nicht auch, dass das ein schlechter Mensch sein muss? Ich glaube schon, dass der Unterschied zwischen gut und schlecht wichtig ist!
Penetre: Was meinst du denn, wenn du „gut“ oder „schlecht“ sagst?
Ich: Das weiß ich selbst nicht so genau…
Penetre: Trotzdem bist du dir sicher, dass einer, der Vergnügen daran findet, gemein zu anderen zu sein, ein schlechter Mensch sein muss. Warum eigentlich?
Ich: … Wahrscheinlich deshalb, weil er damit etwas tut, was andere nicht wollen.
Penetre: Warum ist es schlecht, etwas zu tun, was andere nicht wollen?
Ich: Das fragst du noch? Ist das nicht genau das, was mit dem Wort „schlecht“ gemeint ist?
Penetre: Verstehe. Umgekehrt verstehst du wahrscheinlich unter „gut“ das, was sich die anderen wünschen, nicht wahr? Wenn einer immer das tut, was sich die Mehrheit von ihm wünscht, dann wäre er ein guter Mensch. Und einer, der genau das tut, was viele nicht wollen, wäre ein schlechter Mensch. Korrekt?
Ich: Siehst du da ein Problem?
Penetre: Angenommen ein Großteil der Menschheit wäre drogensüchtig. Wäre es dann gut, den Menschen mehr und mehr Drogen zu geben, und wäre es umgekehrt schlecht, der Menschheit die Drogen wegzunehmen?
Ich: Das wäre in der Tat seltsam. In dem Fall wäre es eher umgekehrt. Bleibt also die Frage, wer bestimmt, was gut und was schlecht ist.
Penetre: Weißt du, was einen echten Optimisten ausmacht?
Ich: Du meinst einen, der daran glaubt, dass am Ende immer alles gut geht?
Penetre: Nein. Ein echter Optimist ist ein Mensch, der über eine radikal positive Lebenseinstellung verfügt. Wem diese Einstellung fehlt, der steht dem Leben grundsätzlich pessimistisch gegenüber. Ich meine keinen Optimismus oder Pessimismus im oberflächlichen Sinn, so wie wenn sich zwei darüber uneinig sind, ob etwas gut oder schlecht ausgeht. Optimismus und Pessimismus betreffen die Wurzel des Daseins. Ein echter Optimist ist von Natur aus vergnügt. Egal ob er gerade Hausaufgaben macht, seinem Beruf nachgeht oder auf ein Ziel hinarbeitet, die Tätigkeit selbst erfüllt ihn innerlich dabei.
Ich: Selbst dann, wenn er dabei alleine ist?
Penetre: Ja, ein echter Optimist zu sein bedeutet, stets Erfüllung in sich selbst zu finden. Selbst wenn dein Leben sinnlos ist und dich keiner dafür lobt, was du tust – wenn du Vergnügen am Dasein selbst hast, ist das Optimismus. Von so einem sagt man, dass er wahre Klasse hat. Das Gegenteil ist der Fall, wenn du stets nach dem Sinn deines Tuns fragst oder auf die Bestätigung der anderen wartest. Unausgefüllt zu sein bedeutet, keine wahre Klasse zu haben.
Ich: Meinst du damit den Unterschied zwischen einem guten und schlechten Menschen?
Penetre: Ganz verkehrt. Gute und schlechte Menschen unterscheiden sich kaum. Wichtiger ist der Unterschied zwischen einem anständigen Menschen und einem, dem nicht zu helfen ist (siehe 2-9). Das ist eine Frage der Erziehung. Aber noch wichtiger ist der Unterschied, ob einer von Grund auf ein Optimist oder Pessimist ist. So […]
Der Mensch lebt nur zum Vergnügen.
Du musst nicht zur Schule gehen.
Du darfst lügen.
Der Wal ist ein Fisch.
Die Erde ist nicht rund.
………
Das behauptet zumindest Penetre. Was denkst du?
„Penetre“ ist der Name der Katze, die uns vor drei Jahren, als ich noch in der fünften Klasse war, zugelaufen kam. Alles an dieser Katze ist so seltsam wie ihr Name. Das merkwürdigste an ihr ist, dass sie die Sprache der Menschen spricht. Auch das, was sie sagt, ist sonderbar. Wovon normale Menschen sprechen, davon spricht sie nie. Noch kein einziges Mal habe ich sie sagen hören, dass sie hungrig oder müde sei. Dafür spricht sie über Fragen wie: „Warum lebt der Mensch?“ Oder: „Muss man zur Schule gehen?“
Ihre Meinungen unterscheiden sich vollkommen von denen der normalen Menschen. Am Anfang bleibt einem da manchmal die Spucke weg, aber je mehr man darüber nachdenkt, desto überzeugender wird das, was Penetre so von sich gibt. Könnte es sein, dass sie recht hat?
In diesem Buch sind meine Gespräche mit Penetre festgehalten. Meistens ist es allerdings Penetre, die spricht, während ich bloß zuhöre.
Die Gespräche habe ich in der Reihenfolge aufgeschrieben, in der sie geführt wurden. Wahrscheinlich sind sie am einfachsten zu verstehen, wenn man sie der Reihe nach liest, aber wenn du willst, kannst du auch die Gespräche zuerst lesen, deren Titel dich am meisten interessieren. Wenn am Ende des Titels allerdings (1) oder (2) steht, rate ich dir (1) vor (2) zu lesen. Und wenn am Ende eines Gesprächs zum Beispiel „siehe 2-7“ steht, bedeutet das, dass im siebten Gespräch des zweiten Kapitels auf dasselbe Thema Bezug genommen wird.
1-1 Warum lebt der Mensch? (1)
Ich: Penetre, was denkst du? Warum lebt der Mensch […]