Hitoshi Nagai:
Penetre und ich
1-13 Wer bestimmt die Bedeutung unserer Sprache (1)?
Ich: Meine Deutschlehrerin sagt mir manchmal, dass ich ein Wort in der falschen Bedeutung verwende. Aber wer bestimmt eigentlich die Bedeutung der Worte?
Penetre: Anders als bei der Farbe eines Vogels gibt es bei der Bedeutung der Sprache keine objektiven Kriterien, welches die richtige Bedeutung ist. Die richtige Bedeutung ist diejenige, auf die sich die Menschen geeinigt haben.
Ich: Was passiert dann, wenn die Mehrheit der Sprecher anfängt, ein Wort oder eine ganze Redewendung in einer anderen Bedeutung zu verwenden? Wird dann die falsche Bedeutung zur richtigen Bedeutung?
Penetre: So einfach ist es nicht. Auch bei der Sprache gibt es Spezialisten, die die wirkliche Bedeutung kennen, auch wenn die Mehrheit glaubt, dass es nicht die richtige Bedeutung ist.
Ich: Was macht die denn zu Spezialisten?
Penetre: Die wissen zum Beispiel, wie und warum ein Wort zu seiner Bedeutung gekommen ist. Dadurch, dass sie die Wurzeln der Wörter kennen, sind sie mit den Menschen in der Vergangenheit verbunden. Selbst wenn in der Gegenwart nur eine Minderheit ein Wort richtig verwendet, kann ein Spezialist darauf hinweisen, dass von einem historischen Gesichtspunkt aus gesehen die Mehrheit der Menschen dieses Wort anders verstanden haben. Selbst wenn ein Wort heute in einer anderen Bedeutung als früher verwendet wird, kann es doch sein, dass die heutige Mehrheit in der Sprachgeschichte nur eine kleine Minderheit darstellt.
1-14 Wer bestimmt die Bedeutung unserer Sprache (2)?
Penetre: Kennst du das japanische Sprichwort „Mitgefühl dient nicht dem Mitmenschen“?
Ich: Ja, klar. Das bedeutet doch, dass es dem anderen schadet, wenn man ihm zu viel Mitgefühl schenkt, nicht wahr?
Penetre: Heute versteht es tatsächlich die Mehrheit der Japaner so. Aber ursprünglich hatte es eine ganz andere Bedeutung: Wenn man jemandem Mitgefühl schenkt, beschenkt man damit letztlich sich selbst. Das heißt, man soll andere mit seinem Mitgefühl beschenken! Dagegen glauben heute viele, dass es umgekehrt bedeutet, man soll andere nicht mit seinem Mitgefühl behelligen. Die Bedeutungen sind also genau entgegengesetzt, aber sie beinhalten beide einen interessanten Widerspruch: Die einen sagen, dass man sich selbst zu liebe dem anderen helfen soll. Die anderen sagen, dass man dem anderen zu liebe ihm nicht helfen soll.
Ich: Die ersten sind irgendwie hinterlistig. Die helfen den anderen ja nur, weil es ihnen um sich selbst geht!
Penetre: Ja und nein. Glaubst du denn, dass so eine Hinterlistigkeit zu einer verbreiteten Redewendung geworden wäre? Ich glaube, es ist eher umgekehrt: In Wirklichkeit geht es der Mehrheit der heutigen Menschen nur um sich selbst. Deshalb wollen sie anderen nicht helfen. Aber weil sie das nicht offen zugeben wollen, behaupten sie einfach, dass man „seinem Mitmenschen mit Mitgefühl nicht dient“. Die Bedeutung der Worte hat sich geändert, weil sich das Rechtfertigungsbedürfnis der Menschen geändert hat. Die Sprache ändert nicht zufällig ihre Bedeutung. Die Bedeutung verändert sich nicht deshalb, weil die Mehrheit dafür ist. Die Mehrheit ist dafür, weil sie die neue Bedeutung nötig hat. Aber darauf kommt man erst, nachdem die Mehrheit sich für eine neue Bedeutung entschieden hat (siehe 3-2 bis 3-5).