Wer bestimmt die Bedeutung unserer Sprache (2)?

1-14

Penetre: Kennst du das japanische Sprichwort „Mitgefühl dient nicht dem Mitmenschen“?
Ich: Ja, klar. Das bedeutet doch, dass es dem anderen schadet, wenn man ihm zu viel Mitgefühl schenkt, nicht wahr?
Penetre: Heute versteht es tatsächlich die Mehrheit der Japaner so. Aber ursprünglich hatte es eine ganz andere Bedeutung: Wenn man jemandem Mitgefühl schenkt, beschenkt man damit letztlich sich selbst. Das heißt, man soll andere mit seinem Mitgefühl beschenken! Dagegen glauben heute viele, dass es umgekehrt bedeutet, man soll andere nicht mit seinem Mitgefühl behelligen. Die Bedeutungen sind also genau entgegengesetzt, aber sie beinhalten beide einen interessanten Widerspruch: Die einen sagen, dass man sich selbst zu liebe dem anderen helfen soll. Die anderen sagen, dass man dem anderen zu liebe ihm nicht helfen soll.
Ich: Die ersten sind irgendwie hinterlistig. Die helfen den anderen ja nur, weil es ihnen um sich selbst geht!
Penetre: Ja und nein. Glaubst du denn, dass so eine Hinterlistigkeit zu einer verbreiteten Redewendung geworden wäre? Ich glaube, es ist eher umgekehrt: In Wirklichkeit geht es der Mehrheit der heutigen Menschen nur um sich selbst. Deshalb wollen sie anderen nicht helfen. Aber weil sie das nicht offen zugeben wollen, behaupten sie einfach, dass man „seinem Mitmenschen mit Mitgefühl nicht dient“. Die Bedeutung der Worte hat sich geändert, weil sich das Rechtfertigungsbedürfnis der Menschen geändert hat. Die Sprache ändert nicht zufällig ihre Bedeutung. Die Bedeutung verändert sich nicht deshalb, weil die Mehrheit dafür ist. Die Mehrheit ist dafür, weil sie die neue Bedeutung nötig hat. Aber darauf kommt man erst, nachdem die Mehrheit sich für eine neue Bedeutung entschieden hat (siehe 3-2 bis 3-5).